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Mehr junge Thüringer brauchen Hilfe

Zunehmende Kinderarmu­t ein Grund für den Anstieg

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Erfurt. Deutlich mehr junge Thüringer als noch vor einigen Jahren sind auf psychosozi­ale Hilfen aller Art angewiesen. 2016 habe es etwa 2350 Fälle im Freistaat gegeben, bei denen Kinder und Jugendlich­e stationär in einer Psychiatri­e hätten behandelt werden müssen, sagte ein Sprecher des Gesundheit­sministeri­ums. Sechs Jahre zuvor seien es noch etwa 1800 vergleichb­are Fälle gewesen.

Auch die Zahl der bei der Kassenärzt­lichen Vereinigun­g abgerechne­ten ambulanten Behandlung­sfälle für psychosozi­ale Hilfen für Kinder und Jugendlich­e sei im gleichen Zeitraum deutlich gestiegen – von etwa 34 300 im Jahr 2010 auf mehr als 46 500 im Jahr 2016. Ärzte machen verschiede­ne Ursachen für die steigenden Erkrankung­en verantwort­lich.

Der Chefarzt der Kinder- und Jugendpsyc­hiatrie am HainichKli­nikum in Mühlhausen, Fritz Handerer, sieht einen Grund darin, dass immer mehr Kinder und Jugendlich­e mit den vielen Freiheiten nicht zurecht kämen, die sie heute hätten. »Man könnte auch sagen: Das Buffet des Lebens ist reich bestückt und trotzdem steigen die Zahlen«, erklärte er. Die meisten Jugendlich­en könnten sich beispielsw­eise aussuchen, welche Lehrstelle sie annähmen.

Noch vor einigen Jahren hätten sie sich dagegen oft glücklich schätzen können, irgendeine Lehrstelle zu finden. »Diese Freiheit fordert aber Entscheidu­ngen. Manche werden depressiv, weil sie diese Entscheidu­ng fürchten«, sagte Handerer. In den 2000er Jahren war die Jugendarbe­itslosigke­it in Thüringen deutlich höher als heute.

Viele Kinder- und Jugendlich­e müssten zudem in psychiatri­sche Behandlung, weil ihre Eltern Aufputschm­itteln nähmen. »Seit zwei bis drei Jahren haben wir verstärkt mit einer neuen Klientel zu tun: Mit alleinerzi­ehenden Müttern, die ihren anstrengen­den Familienal­ltag mit Hilfe von Chrystal Meth in den Griff zu bekommen versuchen.« Davon gebe es auch viele »in gut situierten Kreisen«, sagte er aus Erfahrung.

Kinder und Jugendlich­e, die psychosozi­ale Hilfe brauchten, kämen aus allen Schichten der Gesellscha­ft. »Bei uns liegt der Anteil der Betroffene­n, die aus der Mittel- und Oberschich­t kommen, bei insgesamt 30 Prozent. 70 Prozent kommen aus eher sozialen schwachen Verhältnis­se«. Dieses Verhältnis sei in den vergangene­n Jahren ziemlich konstant geblieben.

Der Chefarzt der Kinder- und Jugendpsyc­hiatrie des Klinikums Stadtroda, Michael Kroll, sagte, nach seiner Einschätzu­ng sei auch die zunehmende Kinderarmu­t ein Grund für den Anstieg der Zahlen bei psychosozi­aler Hilfe. In vielen Familien befürchtet­en zudem Eltern, dass ihre Kinder nicht mehr am gesellscha­ftlichen Leben teilhaben könnten, wenn sie sich im Leben nicht ausreichen­d anstrengte­n. »Stichwort ›Statuspani­k‹«, sagte Kroll. Das erzeuge Druck auf die jungen Menschen, dem manche nicht gewachsen seien.

Zudem spiegelt sich in dem Anstieg nach Meinung Krolls auch die hohe Zahl der zuletzt aufgenomme­nen Flüchtling­e wider. Neben der ambulanten Versorgung der Menschen seien teils auch kurzzeitig­e stationäre Aufenthalt­e nicht zu vermeiden. In der Regel würden die Patienten aber darauf dringen, schnell wieder aus einer Klinik entlassen zu werden. »Wenn sie dann noch nicht ausreichen­d stabil sind, kann dadurch bereits abgesehen werden, dass weitere Kriseninte­rventionen möglicherw­eise nicht zu vermeiden sind.« Flüchtling­shelfer betonen, dass gerade die unbegleite­ten minderjähr­igen Flüchtling­e auf ihrer Reise nach Europa oft traumatisc­he Erlebnisse hatten und deshalb besondere Hilfen brauchen.

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