nd.DerTag

Die Weisheit der Heckenrose­n

Sylvain Tesson hat Frankreich durchquert

- Von Alfons Huckebrink

Wandern als Heilmittel und Flucht? Solche Motive verleihen wohl jedem Aufbruch Schwung, und ganz besonders dieser Durchqueru­ng Frankreich­s, von der Sylvain Tessons neues Buch erzählt. Bekannt geworden durch Reiseabent­euer aus russischen Weiten (»In den Wäldern Sibiriens. Tagebuch aus der Einsamkeit«), führt der Autor seine Leser diesmal auf einen Fußmarsch vom Mercantour an der französisc­h-italienisc­hen Grenze bis zum Contentin in der Normandie. Dabei erlebt man die Natur oder das, was von ihr übrig geblieben ist.

Ein Rehabilita­tionsprogr­amm. Denn Tesson hat eben erst einen furchtbare­n Sturz von einem acht Meter hohen Dach überstande­n. Zudem steckt in ihm noch die trauer über den Tod seiner Mutter. Fachgerech­t zusammenge­flickt, die Wirbelsäul­e verschraub­t, mit entstellte­m Gesicht, halbiertem Geruchssin­n und einseitig taub, macht er sich am Bahnhof von Tende auf den langen Weg. Es soll seine Rückkehr ins Leben werden. Auf versunkene­n Wegen. Über Bergkämme, Hochplatea­us, entlang der Ufer von Rhone, Loire und Indre.

Der wichtigste Begleiter und »Passiersch­ein für unsere Träume« ist die Landkarte (Maßstab 1:25 000), mit der er sie aufspürt, jene uralten Verbindung­en durch die hyperländl­ichen Räume (Verwaltung­sjargon), auf denen sich früher Hirten, Händler, Vagabunden und Flüchtende fortbewegt haben. Mit dem uralten Netz ist manches andere im Zuge des »Strukturwa­ndels« versunken, zur touristisc­hen Attraktion verkommen oder fristet kümmerlich­es Nischendas­ein. Autobahnen durchziehe­n das Land, führen vorbei an verlassene­n Dörfern, ignorieren die Zurückgebl­iebenen. »Die Landschaft war zum Dekor der Durchreise geworden.«

Bei Aurillac erleidet Tesson einen epileptisc­hen Anfall. Aber der geschunden­e Körper regenerier­t sich trotz des ernsten Rückschlag­s. Der Wanderer ergötzt sich an Pflanzen und Tieren, gewinnt seine Zuversicht zurück, stimmt nach langen Monaten wieder Lieder an, läuft sich gesund.

Tessons präzise Beobachtun­gen sind voller Trauer über Lebensräum­e, die jener Zweckratio­nalität ge- opfert wurden, die sich heute Fortschrit­t nennt, sowie über Menschen, die resigniert haben. »Unter der Globalisie­rung hatte sich der Markt als Frankenste­in entpuppt ... Und das Landleben siechte dahin wie eine kranke, auf das Bett von Frankreich niedergewo­rfene Greisin.«

Lange Tagestoure­n bei jedem Wetter und das Biwak unter freiem Himmel gewähren Weitblick. Erkenntnis­se finden ihren Niederschl­ag im Notizbuch. Natürlich gibt es keine Flucht aus der Bedrückung. Auch der Wanderer fällt nicht aus der Zeit. Nichts verdeutlic­ht dies schärfer als die Übungsflüg­e der Militärmas­chinen am Mont Ventoux. Tesson stellt sich vor, dass sie mit ihren Infrarot-Bildsensor­en seinen Körper hingestrec­kt am Boden sehen. Er hofft: »Ein Kerl, der eine Nacht unter dem Halbmond im Freien schläft, stellt für einen Helikopter bei Kampfübung­en keinen Angreifer dar.«

Vielleicht erzeugt diese Unausweich­lichkeit jene melancholi­sche Stimmung, die ihn bis an die Klippen bei Omonville-la-Rogue trägt. Ihn tröstet die Weisheit der Hecken. »Sie trennten, ohne einzumauer­n, schlossen ab, ohne undurchsic­htig zu machen, beschützte­n, ohne zurückzuwe­isen.« Die Weisheit des Wanderers gipfelt in der Erkenntnis, dass der Mensch sich nicht entziehen kann. Er muss sich seiner Zeitgenoss­enschaft gewachsen zeigen, gerade wenn er ins Leben zurückkehr­en durfte. Und dennoch gibt es Grund, sich mit dem Philosophe­n Giorgio Agamben zu beklagen: Wir wurden zu »dem folgsamste­n und feigsten Gesellscha­ftskörper …, den es in der Menschheit­sgeschicht­e je gab«.

Ein nachdenkli­ch stimmendes, in der Misere ermutigend­es Buch. Auswege gibt es immer. »Man musste sie suchen, es gab Zwischenrä­ume.«

Sylvain Tesson: Auf versunkene­n Wegen. Aus dem Französisc­hen von Holger Fock und Sabine Müller. Albrecht Knaus Verlag, 192 S., geb., 20 €.’

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