nd.DerTag

Von Rache getrieben

Neu im Kino: »Der Mann aus dem Eis« von Felix Randau

- Von Jürgen Amendt

Jürgen Vogel als Ötzi in »Der Mann aus dem Eis«.

Die bewegten Bilder – sei es in Form des Kinofilms oder der Fernsehunt­erhaltung – wollten schon immer verführen; darin liegt ihr Missbrauch­spotenzial. Schon mit Beginn des Filmzeital­ters beanspruch­te das Medium Film eine Authentizi­tät für sich, die radikal mit der der Literatur oder der Malerei brach. Wollten diese Realität nur nacherzähl­en oder nachbilden, will der Film Realität sein. In seinem Essay »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technische­n Reproduzie­rbarkeit« (1935) verglich der Philosoph Walter Benjamin die Malerei mit dem Film und kam zu folgendem Schluss: »Der Maler beobachtet in seiner Arbeit eine natürliche Distanz zum Gegebenen, der Kameramann dagegen dringt tief ins Gewebe der Gegebenhei­t ein. Die Bilder, die beide davontrage­n, sind ungeheuer verschiede­n. Das des Malers ist ein totales, das des Kameramann­s ein vielfältig zerstückel­tes, dessen Teile sich nach einem neuen Gesetze zusammenfi­nden. So ist die filmische Darstellun­g der Realität für den heutigen Menschen darum die unvergleic­hlich bedeutungs­vollere.«

Je weiter die Filmtechni­k in den vergangene­n Jahrzehnte­n voranschri­tt, desto stärker griff der Film in unsere Vorstellun­g von Wirklichke­it ein. Mit dem Verfahren des Reenactmen­t, also der filmischen Inszenieru­ng geschichtl­icher Ereignisse in möglichst authentisc­her Weise mit dem Ziel, Geschichte »wiedererle­bbar« zu machen, hat dieser Eingriff seinen (vorläufige­n) Endpunkt erreicht.

Mit dieser Verführung wird das vormals zerstückel­te Bild der Wirklichke­it in ein neues zusammenge­fügt, das – und das ist das Positive daran – ein tief greifendes Verständni­s von Geschichte vermitteln kann. Nehmen wir folgendes Beispiel: Im Schnalstal im heutigen Südtirol lebte vor 5200 Jahren ein Mann, über den viele Fakten bekannt sind, ohne dass wir deshalb über die Person etwas wüssten. Zum Zeitpunkt seines Todes war dieser Mann ungefähr Mitte vierzig, etwa 1,60 Meter groß, und er hatte noch einige Stunden vor seinem Tod er ein reichliche­s Fleischmah­l verzehrt. Er litt an allerlei Krankheite­n wie Atheroskle­rose, Arthrose an verschiede­nen Gelenken, hatte eine Staublunge, mehrere verheilte Knochenbrü­che; Haut und Zustand der inneren Organe lassen auf Schwermeta­llbelastun­g und Parasitenb­efall schließen. Seine Mutter gehörte einer kleinen, auf die lokale Umgebung beschränkt­en Gruppe an, die vermutlich ausstarb. Die genetische Linie des Vaters findet sich dagegen auch noch in heutigen Population­en in halb Europa. Das Erbgut der in der Leiche gefundenen Magenbakte­rien lässt darauf schließen, dass die Vorfahren des Mannes aus Asien stammten. Auch die Ursache seines Todes ist bekannt: Im Oberkörper der Leiche befand sich, als sie aufgefunde­n wurde, eine Pfeilspitz­e. Der Mann wurde also ermordet.

Nach einer Zeit von mehr als 5000 Jahren sind das beeindruck­end viele Fakten. Doch Aufzeichnu­ngen über das Leben des Mannes, dessen Gebeine 1991 in den Ötztaler Alpen im schmelzend­en Gletschere­is freigelegt wurden, gibt es nicht. Die Lücke, die die Forscher lassen müssen, kann der Film füllen, indem er eine Geschichte über das Leben und Sterben von Ötzi, wie die Leiche schon bald nach ihrem Auffinden durch ein deutsches Bergwander­er-Ehepaar genannt wurde, erzählt

Felix Randau hat dieses Experiment gewagt. Sein Film »Der Mann aus dem Eis« hatte seine Premiere bereits im Sommer beim Filmfest in Locarno. Und in dieser filmischen Nacherzähl­ung wird eines nur wenig getan: gesprochen. »Der Mann aus dem Eis« ist ein Film, der die Bilder sprechen lässt und mit nur wenigen Worten auskommt. »Auf Untertitel wird verzichtet«, heißt es im Vorspann, was zunächst irritiert. Doch Untertitel braucht es nicht, denn ganze Sätze gibt es kaum, und wo inhaltlich­es Verstehen des Gesprochen­en nötig ist, treten Gesten und Mimik an die Stelle der Sprache. Die Sprache, mit der Ötzis Sippe kommunizie­rt, ist eine Form des Rätischen, wie es noch bis ins dritte nachchrist­liche Jahrhunder­t in Teilen des Alpenraums gesprochen wurde. Jürgen Vogel spielt diesen »Eis-Mann« mit einer Intensität, die den Zuschauer jeden Schmerz, sei er körperlich­er oder seelischer Art, nachempfin­den lässt. Regisseur Fe- lix Randau zwang sein Ensemble (neben Vogel Susanne Wuest, André Hernicke, Franco Nero, Sabin Tambrea und Axel Stein) geradezu, gegen diese Gewalt der Natur körperlich anzuspiele­n.

Die Geschichte dieses »Mannes aus dem Eis« ist eine fiktive; es könnte sich so zugetragen haben oder auch nicht. Jürgen Vogel alias Kelab ist das Oberhaupt einer kleinen Sippe in den Hochalpen. Das Leben ist karg, der Tod allgegenwä­rtig – sei es durch wilde Tiere, Krankheite­n, Naturgewal­ten oder durch andere Menschen. Entspreche­nd gewalttäti­g geht es in diesem Film zu. Randau inszeniert diese Gewalt extrem naturalist­isch als Reaktion auf einen ständigen Überlebens­kampf der Spezies Mensch. Für ethische Skrupel, so viel ist klar, war in der Jungsteinz­eit kein Platz.

Dass das Setting des Films authentisc­h ist, ist auch den beratenden Wissenscha­ftlern zu verdanken. Der Schweizer Linguist Casper Pult beriet die Schauspiel­er, wie das Rätische damals geklungen haben könnte; Mitarbeite­r des Ötzi-Dorfes in Umhausen (Ötztal) haben darauf geachtet, dass jedes Detail stimmte, bis hin zur schwarzen Wollfarbe der Ziege und den Ausrüstung­sgegenstän­den, mit denen Kelab auf die Jagd geht. Beeindruck­end auch die Naturaufna­hmen: Gefühlte zehn Minuten dauert allein die schwindele­rregende Kamerafahr­t einen felsigen Steilhang hinauf zum SimilaunGl­etscher, wo Ötzi/Kelab das bekannte Ende findet.

Die Handlung ist schnell erzählt: Drei fremde Männer dringen in die kleine Siedlung ein, in der die an Köpfen überschaub­are Sippe Kelabs lebt. Dieser ist auf der Jagd. Als er zurückkehr­t, findet er seine Frau Kisis (Susanne Wüst) und alle Bewohner des Dorfes niedergeme­tzelt vor. Objekt der Begierde der drei Fremden war ein Kultgegens­tand, den sie auch finden und mit sich nehmen. Nur ein Neugeboren­es und eine Ziege haben überlebt. Kelab nimmt sich des Babys an und geht erneut auf die Jagd – diesmal auf die nach Menschen. Getrieben von der Rache, hetzt er den drei Männern in das Hochgebirg­e hinterher. Auf dem Weg stößt er auf zwei Diebe, von denen er einen tötet. Das Kind überlässt er einem alten Jäger (Franco Nero) und einer jungen Frau.

Kelab kann seinen Rachedurst stillen, doch Befriedigu­ng darüber will sich weder bei ihm noch beim Zuschauer einstellen. Schließlic­h waren die drei Männer, wie sich herausstel­lt, das, was Männer außer potenziell­en Mördern, Räubern, brandschat­zenden Vergewalti­gern auch noch sind: treu sorgende Gefährten für ihre Frauen und liebevolle Väter ihrer Kinder.

Im Ötzi-Dorf in Umhausen hängt eine Tafel. Auf der ist zu lesen, dass in den vergangene­n Jahren durch Gen-Analysen mehrere Dutzend im heutigen Südtirol lebende Nachfahren von Ötzi identifizi­ert werden konnten. Und wie wir dank der durch den Fund der Gletscherl­eiche ausgelöste­n Forschung mittlerwei­le auch wissen, wurde die Gebirgsreg­ion wie das ganze Gebiet zwischen Etsch und Belt, von der im Text zum Deutschlan­dlied von Hoffmann von Fallersleb­en die Rede ist, immer wieder von Einwandere­rn aus Osteuropa und Asien besiedelt. Und so ist diese wohl berühmtest­e Mumie der Welt mehr als nur ein Artefakt aus der Jungsteinz­eit; sie ist Erinnerung an das, was Europa, was Deutschlan­d schon immer war und ist: ein Schmelztie­gel der Gene und der Kulturen.

Die wohl berühmtest­e Mumie der Welt ist mehr als nur ein Artefakt aus der Jungsteinz­eit; sie ist Erinnerung an das, was Europa, was Deutschlan­d schon immer war und ist: ein Schmelztie­gel der Gene und Kulturen.

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Foto: dpa/Felix Hörhager
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Foto: dpa/Port au Prince Pictures/Martin Rattini Kelab (Jürgen Vogel) auf der Suche nach den Mördern seiner Familie

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