Bildung für Bangladesh
Eine Schule im Slum – Hoffnung für die Kinder der Ärmsten.
Im Großraum Dhaka leben etwa 15 Millionen Menschen. 30 bis 50 Prozent von ihnen vegetieren in etwa 5000 Slums. Doch auch dort herrscht die Hoffnung auf ein besseres Leben. Nargis Akter ist ein aufgewecktes Kind. Die Achtjährige liest und spielt gerne. Damit unterscheidet sich das Mädchen in dem roten, mit weißen Spitzen besetzen Kleidchen nicht von seinen Altersgenossinnen. Aber Nargis lebt mit Familie in einem Slum in Dhaka. Die meisten Kinder in dem Slum müssen schon von klein auf arbeiten. Ohne die Kinderarbeit würden die meisten Familien noch schlechter über die Runden kommen. Ein Schulbesuch ist da nur hinderlich, und an unbeschwertes Spielen ist kaum zu denken.
Nargis hat jedoch Zeit für ihre Lieblingsbeschäftigungen. Sie besucht die nahe gelegene Schule für Straßenkinder der privaten deutschen Hilfsorganisation Shishu Neer. »Sie soll es einmal besser haben als wir«, sagt ihr Vater Arif Akter auf die Frage, warum er die Tochter zu der Schule lässt. Nargis träumt davon, Ärztin zu werden.
Vor einigen Jahren sind die Akters von Chandpur im Südosten von Bangladesh in die Hauptstadt Dhaka gezogen. Arif arbeitet als Fahrer eines Riksha-Van. Das ist ein an ein Fahrrad gehängter flacher Holzkarren, mit dem Waren transportiert werden. Reichlich euphemistisch ausgedrückt könnte man sagen, Arif ist ein selbstständiger Spediteur. Die Wahrheit aber ist, dass der 32-Jährige Tag für Tag bei sengender Hitze oder strömendem Monsunregen mit seinem schwer beladenen Riksha-Van durch den mörderischen Verkehr des Molochs Dhaka strampelt – für einen durchschnittlichen Tagesverdienst von 400 Taka (4,10 Euro). Seine Ehefrau trägt als Haushaltshilfe mit 4000 Taka pro Monat (40 Euro) zum Familieneinkommen bei.
Von diesem Einkommen muss die Familie leben. 2500 Taka (25 Euro) sind pro Monat für die Miete fällig. Soviel kostet die fünf Quadratmeter große Hütte aus Bambus und durchgerostetem, löcherigem Wellblech, in der das Ehepaar Akter mit Nargis und den beiden anderen Kindern lebt. Immerhin hat das Elendsquartier einen Betonboden und Strom, wobei letzterer mit 1000 Taka die Haushaltskasse belastet. Es sind Reiche, die sich selbst an der bitteren Armut der Armen noch bereichern. »Eine Mafia hat sich das Land hier illegal genommen und beutet die Leute aus«, klagt Ahmad Faruque Ahmad, Koordinator von Shishu Neer.
Hunderte solcher Hütten wie die der Akters stehen dicht an dicht in dem Slum Ramna im Stadtteil Malibagh entlang einer Zugstrecke. Alle zehn Minuten etwa donnert ein Zug durch den Slum. Dann wird es laut, und jetzt in der trockenen Jahreszeit wirbeln die Züge viel Staub auf. Inoffiziellen Schätzungen zufolge leben in Ramna mehrere tausend Menschen unter katastrophalen Bedingungen. Es gibt so gut wie keine sanitären Einrichtungen. Hunderte Menschen müssen sich einen Brunnen teilen.
Trotz alledem sagt Arif uns in seiner Hütte, durch die gerade ein schwarz-weißes Huhn irrt: »Das Leben ist hier besser. Als Bauer in Chandpur konnte ich die Familie nicht ernähren.«
Obwohl sich mit rund sieben Prozent das Wirtschaftswachstum von Bangladesh sehen lassen kann, ist es eines der ärmsten Länder der Welt. Die Kluft zwischen Arm und Reich wird größer. Über 18 Prozent seiner 160 Millionen Einwohner leben in extremer Armut. Diese Menschen verdienen weniger als 1,60 Euro am Tag und können häufig nur eine Mahlzeit täglich zu sich nehmen. Mehr als die Hälfte der Kinder in Bangladesh ist unter- oder fehlernährt.
Dhaka ist mit Abstand die größte Stadt Bangladeshs. Mit gut 15 Millionen Einwohnern zählt sie zu den Megastädten dieser Welt. Stromausfälle sind an der Tagesordnung. Die Versorgung der Bevölkerung mit sau- berem Trinkwasser ist ein großes Problem. Ein unglaubliches Verkehrschaos gehört genauso zum Alltag, wie extreme Luftverschmutzung, stinkende Müllhalden und massive Lärmbelastung.
Besonders betroffen von all diesen Problemen sind die Menschen in den vielen Slums. Zwischen 30 und 40 Prozent der Bewohner des Großraums Dhaka, vier bis fünf Millionen Menschen, leben in etwa 5000 Slumgebieten. Allerdings ist die Betonwüste Dhaka auch außerhalb der Slums kein Ort für Kinder. »Es gibt keine Spielplätze und so gut wie keine Parks«, weiß Faruque Ahmed.
In der Schule von Shishu Neer am Rande des Slums geht es munter zu. Es ist gerade Mittagspause. Kinder spielen lärmend, lachen, toben, im Flur schaut eine Rasselbande Comics auf dem Computer. In der spartanischen Küche wird das Mittagessen zubereitet. Es gibt Reis, eine Art Püree aus Kartoffeln und Papaya, Dal (Linsen) und für jeden eine Banane mit Milch als Nachtisch. Rund 80 Schüler hat die Schule derzeit. Die Jungs und Mädels sind zwischen sie- ben und siebzehn Jahre alt. Die älteren besuchen mit Unterstützung von Shishu Neer eine staatliche High School.
Spartanisch sind die Klassenzimmer eingerichtet. Außer Lesen, Rechnen, Schreiben und dem Umgang mit Computern lernen die Kinder ebenso, für sich zu sorgen. Händewaschen vor den Mahlzeiten ist genauso obligatorisch wie das Zähneputzen nach dem Essen. Regelmäßig schauen zudem Ärzte nach der Gesundheit der Kinder. Alles Dinge, von denen die meisten Slumkinder nicht einmal träumen, weil sie gar nicht wissen, dass es sowas gibt.
Aufgenommen in die Schule werden nur Kinder aus den ärmsten der armen Slumfamilien. »Wir überprüfen die Verhältnisse, aus denen sie kommen, bevor wir sie aufnehmen«, erklärt der Shishu-Neer-Koordinator. »Anfangs sind wir in den Slum gegangen und haben Kinder hierhergeholt. Inzwischen bringen die Eltern sie zu uns, weil wir einen guten Ruf haben«, sagt er mit einem gewissen Stolz.
Unbefangen und offen gehen die Kinder in der Schule auf den Besucher aus dem fernen Land zu. Mahmudul sagt freudig: »Hello«. Und: »How are you? What is your name?« Englisch gehört auch zum Unterrichtsprogramm. Der Sechsjährige führt stolz seine Zählkunst auf Englisch vor. Bis Twenty schafft er es schon. Mit Hilfe eines Übersetzers erzählt Mahmudul, dass er fünf Brüder und drei Schwestern hat, sein Vater auf dem Bau und seine Mutter als Haushaltshilfe arbeitet und er die Schule absolut toll findet.
Wie lange der Slum noch existiert, ist unklar. Schon schießen in unmittelbarer Nachbarschaft Wohnblöcke in die Höhe, denen Hütten und kleinen Geschäfte entlang der Bahnstrecke weichen müssen. Die modernen Wohnungen sind für die Armen unerschwinglich. Ein 100-Quadratmeter-Appartement kostet umgerechnet 250 Euro. Das sind etwa 90 Euro mehr, als die Akters zusammen im Monat verdienen.
Die Hütte der Akters steht auf festem Grund. Nur vielleicht zehn Meter weiter wohnt Ripa mit ihrer Mutter in einer Art Sumpfgebiet. Zu der Behausung führt zwischen anderen Hütten ein schmaler Steg aus Bambusrohren. Durch die Ritzen des Bambusstegs sieht man fauliges Wasser voller Müll und Fäkalien und ab und zu eine tote Ratte. Ripa, 13, zeigt uns trotzdem stolz die Hütte. »Mein Vater ist weggelaufen, als ich ein Jahr alt war«, erzählt die 13-Jährige und entschuldigt sich, dass die Mutter nicht zu Hause ist. »Sie arbeitet tagsüber als Hausangestellte.«
Ripa beginnt gerade eine Tätigkeit als Schneiderin. Sie näht auf Bestellung Kamize. Diese längeren Hemden, die man locker über den Hosen trägt, sind die traditionelle Kleidung in Bangladesch. Ihren schwarz-roten Kamiz mit blauem Blumenmuster hat Ripa selbst genäht, es ist sozusagen ihr Meisterstück.
Ripa besucht auch die ShishuNeer-Schule. Dort hat sie auch Nähen gelernt. Aber nicht etwa als Vorbereitung auf einen mies bezahlten Sklavenjob in einer der berüchtigten Textilfabriken Dhakas. Sondern im Gegenteil, um sich solch eine schlimme Zukunft zu ersparen. Faruque Ahmed weiß: »Kinder aus armen Verhältnissen müssen zum Lebensunterhalt der Familie beitragen. Daran führt kein Weg vorbei. Als Schneiderin können Mädchen wie Ripa aber wenigstens zu Hause arbeiten, und trotzdem weiter die Schule besuchen, statt in Fabriken schuften oder als Hausmädchen für einen Hungerlohn arbeiten zu müssen.«
Schneiderin ist nicht Ripas Traumberuf. »Ich möchte Lehrerin werden«, sagt sie selbstbewusst. Ob Ripa wirklich eines Tages als Lehrerin vor einer Klasse steht oder Nargis es wirklich zum Medizinstudium schafft, wird sich erweisen. Auf jeden Fall aber können Ripa, Nargis und der anderen Kinder von Shishu Neer schreiben, lesen, rechnen, Englisch sprechen und mit Computern umgehen. Mit diesen Fähigkeiten sind sie in Bangladesh mit einer Analphabetenraten von 28 Prozent klar im Vorteil.
Ob bei sengender Hitze oder strömendem Monsunregen – mit seinem Riksha-Van strampelt Arif täglich durch den mörderischen Verkehr des Molochs Dhaka – für vier Euro Tagesverdienst.