Ende einer unrühmlichen Einrichtung
Nach 24 Jahren wird der »Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien« in Den Haag am 31. Dezember offiziell aufgelöst. In dieser Woche nimmt das UN-Tribunal mit einem Symposium und einer Zeremonie Abschied. Das Jugoslawien-Tribunal schl
90 Angeklagte wurden vom »Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien« verurteilt. Kritiker bemängeln, dass nur einseitig nach Tätern ermittelt wurde. Die Arbeit des Jugoslawien-Tribunals wird am 31. Dezember offiziell beendet, am 20. Dezember findet ein Festakt dazu statt: Fast 25 Jahre lang saßen die beiden Chefankläger Carla Del Ponte und Serge Brammertz insgesamt mehr als 50 Richtern und 161 Angeklagten gegenüber. Der spektakulärste Fall des aus Belgrad entführten früheren serbischen Präsidenten Slobodan Milošević konnte nicht abgeschlossen werden; er starb in der Untersuchungshaft. 900 Beschäftigte müssen sich im kommenden Jahr einen neuen Job suchen.
Gegründet wurde der »Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien« (ICTY) im Mai 1993. Mitten in den blutigsten Monaten des bosnischen Völkerschlachtens beschloss die UNO erstmals seit ihrem Bestehen, einen Ad-hoc-Gerichtshof einzurichten. Vielen mögen die Nürnberger Prozesse gegen die Nazi-Verantwortlichen als Vorbild gedient haben. Das Jugoslawien-Tribunal scheiterte verglichen damit kläglich. Vor Ort war und ist es bis heute nicht akzeptiert; eine Verständigung zwischen den verfeindeten Volksgruppen brachte es nicht zustande, im Gegenteil: Verurteilte Serben oder Kroaten (andere gibt es kaum) gelten zu Hause meist als Helden. Einzig bei den bosnischen Muslimen wird die Arbeit des ICTY positiv bewertet, was bereits ein Schlaglicht auf die (geo-)politische Ausrichtung des Gerichtes wirft.
Schon die Argumentation für seine Grundlagen war falsch: Das zerfallende Jugoslawien konnte nicht mit der Erzählung vom serbischen Schlächter erklärt werden, der friedliebende Kroaten, Muslime und Kosovo-Albaner überfiel. Und die Stigmatisierung von Milošević als Wiedergänger Hitlers, wie sie von den damaligen deutschen Außen- und Verteidigungsministern Joschka Fischer und Rudolf Scharping bei vielen Gelegenheiten gebraucht wurde, fiel in den Bereich medialer Kriegsführung. Tatsächlich hatte man es in den 1990er Jahren mit nationalen Bewegungen der Slowenen, Kroaten und Albaner sowie einer radikal-islamischen Strömung der Muslime zu tun, die den wirtschaftlich schwer angeschlagenen Vielvölkerstaat Jugoslawien auflösen wollten und darüber keine Einigung mit den ebenfalls national orientierten Serben zustande brachten. Die Los-von-BelgradKräfte fanden Unterstützung vor allem in Deutschland und Österreich, die den Sezessionswunsch – übrigens gänzlich konträr zur aktuellen Situation in Katalonien – als »nationale Selbstbestimmung« glorifizierten und den Konflikt dynamisierten.
Der Westen sprach sich für die nationale Unabhängigkeit der Kroaten, Slowenier, Bosnier und Albaner aus, Russland unter Boris Jelzin war auf internationaler Bühne abgetaucht, und Belgrad stand auf verlorenem Posten. Nach kurzem Zoll- und Grenzkrieg in Slowenien (Sommer 1991) folgten verlustreiche Bürgerkriege in Kroatien (1991 – 1995) und BosnienHerzegowina (1992 – 1995) sowie eine NATO-Intervention in Serbien (1999). Das Jugoslawien-Tribunal begleitete die westliche Parteinahme seit 1993 juristisch und setzte diese Tätigkeit auch nach dem Ende des Krieges fort.
Einäugige Justiz
Wer einen Blick auf die ethnische Landkarte Jugoslawiens wirft, wird feststellen, dass nach einem Jahrzehnt Krieg alle Volksgruppen des ehemaligen Jugoslawien von Vertreibungen betroffen sind. Großräumig vertrieben wurden Muslime aus Teilen Bosniens und Serben aus der Krajina, Slawonien und Teilen des Kosovo. Schon dieser für jeden sichtbare Befund widerspricht der einseitigen Täter-Opfer-Vorstellung, von der das Jugoslawien-Tribunal ausging.
Die Scharfsichtigkeit des ICTY beschränkte sich aber auf die serbische Seite. So waren es ausschließlich serbische Politiker in höchsten Ämtern, die vor den Kadi kamen. Slobodan Milošević und Vojislav Šešelj aus Serbien und Radovan Karadžić aus dem serbischen Teil Bosniens wurden angeklagt und verbrachten beziehungsweise verbringen Jahre hinter Gittern. Milošević starb in der Zelle, weil ihm das Gericht eine medizinische Versorgung in Moskau verweigerte. Šešelj saß zwölf Jahre vor den Richtern, ohne dass er verurteilt worden wäre; der Eindruck, dass es dabei eher um eine politisch motivierte Verwahrung als um einen normalen Justizakt ging, verdichtete sich von Jahr zu Jahr. Karadžić wurde zu eine 40-jährige Gefängnisstrafe verurteilt.
Dagegen starben der kroatische Präsident Franjo Tudjman und sein bosnischer Kollege Alija Izetbegović friedlich in häuslichen Betten, obwohl beide ebenso wie ihre serbischen Kontrahenten mörderische Befehle gegeben und entsprechende nationalistische beziehungsweise islamistische Ideologien dazu geliefert hatten. Die kosovo-albanische Riege der »Befreiungsarmee des Kosovo« UÇK steht bis heute unter dem Schutz westlicher Mächte. Das zeigt sich auch daran, dass einer ihrer Führer, der per Interpol gesuchte Ramush Haradinaj, erst kürzlich erneut zum kosovarischen Ministerpräsidenten gewählt wurde.
Der Kronzeuge
Das erste Urteil des Jugoslawien-Tribunals wurde am 29. November 1996 gegen Dražen Erdemović gesprochen. Der kroatischstämmige Bosnier trat in der Folge als geschützter Kronzeuge gegen Milošević, Karadžić und andere auf. Seine Aussagen wurden zum Fundament des ganzen Konstrukts einer ethnisch motivierten Verschwörung serbischer Führer und Politiker zum Zwecke der Ausrottung von Muslimen und Kroaten; er war der Kronzeuge für Völkermorde und Kriegsverbrechen der serbischen Seite.
Germinal Civikov zeichnet in seinem Buch »Srebrenica. Der Kronzeuge« die Geschichte des Dražen Erdemović nach. Als Angehöriger der 10. Sabotageeinheit der bosnisch-serbischen Armee war er seinen eigenen Aussagen zufolge zusammen mit sieben anderen namentlich bekannten Männern außerhalb seiner Dienstzeit am 16. Juli 1995 in Pilica nahe Srebrenica an der Erschießung von 1200 muslimischen Männern beteiligt. Er gesteht, 70 bis 100 persönlich erschossen zu haben. Den Befehl dazu gab der Kommandant der Einheit, Milorad Pelemiš. Der Massenmord von Srebrenica war fortan Sinnbild der Verbrechen der Kriege.
Für seine Tat wird Erdemović zu fünf Jahren Haft verurteilt, wovon er dreieinhalb absitzt, um dann mit einer neuen Identität ausgestattet in Norwegen zu leben, von wo aus er für seine Zeugenauftritte jedes Mal nach Den Haag eingeflogen wird. Als geschützter Zeuge bleibt er gesichtslos, seine Stimme wird verzerrt. Milošević konfrontiert Erdemović im Kreuzverhör direkt mit der Möglichkeit, dass die Massenmorde vom französischen Geheimdienst DST angeleitet worden sein könnten; immerhin war Erdemović’ damaliger Kommandant Pelemiš zusammen mit vier weiteren Mitgliedern einer Gruppe »Pauk« (»Spinne«) im November 1999 in Belgrad wegen einer möglichen französischen Verschwörung festgenommen worden. Angeblich planten sie einen Anschlag auf Milošević. Mindestens einer der Männer, Jugoslav Petrušić, diente in der französischen Fremdenlegion und hatte einen französischen Pass. Auch die Tatsache, dass Erdemović gar nicht leugnet, für den Massenmord in Srebrenica einen Barren Gold bekommen zu haben, eine doch seltsame Bezahlungsart, ließ aufhorchen. An diesem Punkt unterbrach das Tribunal das Kreuzverhör, auch für die genannten Mittäter interessierte es sich nie.
Es sind Figuren wie Erdemović, die Krieg als undurchsichtiges Geflecht aus militärischen Operationen, ge- heimdienstlicher Tätigkeit und Sabotageaktionen in Erinnerung rufen. Dass das Haager Tribunal auf die Aussagen eines solchen Kronzeugen seine wichtigsten Urteile aufbaute, delegitimierte seine Arbeit beträchtlich.
Exakter als Mutmaßungen über unterbrochene Befehlsketten und Geheimdienstaktivitäten zeigt ein Blick auf den penibel gepflegten Internetauftritt des Jugoslawien-Tribunals seine krasse ethnische Unausgewogenheit. Die wichtigsten in den vergangenen 24 Jahren Verurteilten sitzen in einem eigens eingerichteten Gefängnis in Scheveningen, der sogenannten »United Nations Detention Unit«. Es sind zehn Männer, allesamt der Kriegsverbrechen schuldig gesprochen, einige von ihnen auch des Völkermordes. Alle zehn stammen aus Bosnien, Ratko Mladić und Radovan Karadžić wurden mit lebenslang beziehungsweise 40 Jahren Haft bedacht, der bekannteste bosnische Kroate, Valentin Ćorić, ehemaliger Innenminister der Kroatischen Republik Herceg-Bosna, erhielt 16 Jahre. Kein Muslim oder Kosovo-Albaner muss das UN-Gefängnis von innen sehen.
Unausgewogenheit des Gerichts Von 90 Verurteilten sitzen noch 26 in Haft, die Mehrheit davon in EU-europäischen Gefängnissen. Es sind ausschließlich Serben (aus der Republika Srpska oder Serbien) und bosnische Kroaten. Der Fall des ranghöchsten Kroaten, General Ante Gotovina, der vor dem ICTY stand, ist bezeichnend für die Einäugigkeit des Gerichts. Als Verantwortlicher für die Vertreibung der serbischen Bevölkerung aus der Krajina (Operation »Oluja«/»Sturm«) wurde Gotovina, der zuvor in der Fremdenlegion gekämpft hatte und auch einen französischen Pass besaß, im August 2010 unter anderem wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu 24 Jahren Haft verurteilt. Zwei Jahre später erfolgte ein überraschender Freispruch in allen Anklagepunkten. Bosnische Muslime verübten dem Gericht zufolge keine Kriegsverbrechen.
Es ist diese Unausgewogenheit, die das Jugoslawien-Tribunal zu einer unrühmlichen Einrichtung machte. Kriegsverbrechen von Serben, die es in großer Zahl gegeben hat, wurden mit Nachdruck verfolgt, während man an solche von Kroaten und Kosovo-Albanern – ganz zu schweigen von bosnischen Muslimen – nicht mit gleichem Maßstab heranging. Ihre Führer wurden im Westen aus geopolitischen und wirtschaftlichen Gründen gebraucht, weshalb das Auge der ICTY-Justiz auf dieser Seite schlecht sah oder gar blind blieb.
Von Hannes Hofbauer ist zum Thema erschienen: »Balkankrieg. Zehn Jahre Zerstörung Jugoslawiens«, Promedia 2001. 296 S., brosch., 17,90 €.