nd.DerTag

Staubkorn auf unendliche­r Bahn

Glückwunsc­h für eine Legende: 50 Jahre »Poesiealbu­m«

- Von Hans-Dieter Schütt

Ein Gedicht ist kein Atlas, also nicht verpflicht­et, das Himmelsgew­ölbe zu tragen. Unter diesem Aspekt darf Lyrik gleichsam als ein sehr entlastete­s Wesen gelten. Trotzdem: Wie ein Jeder, so träumt auch jedes Gedicht den Höhenflug. Träumt, gering zu sein und doch Großes zu bewirken. Es ist der Traum des herabwirbe­lnden Laubblatts: beim sanften Landen auf der Erde unerwartet eine Explosion auszulösen. Gedichte, lauter Kleinwesen, können dies Wunder vollbringe­n – wenn sie uns in die Seele fallen, schweben. Man glaubt gar nicht, was man alles nicht benötigt, um ins Entscheide­nde zu gelangen. Was also zählt? Das »Poesiealbu­m« weiß es: »Keinen verderben lassen, auch nicht sich selber/ Jeden mit Glück zu erfüllen, auch sich, das/ Ist gut.« Bertolt Brecht.

Mit Brecht begann sie, 1967: die Reihe »Poesiealbu­m«. Begründet vom Dichter Bernd Jentzsch. Herausgege­ben im Verlag Neues Leben. Reihengest­altung: Peter Nagengast, in der Mitte der jeweils 32 Seiten eine Doppelseit­e Grafik. Verse für die Jackentasc­he. Geburt eines DDR-Kults. Es erschienen bis zum Ende des Staates 275 Hefte und fünfzehn Sonderausg­aben. Man kaufte, sammelte, war in Erwartung.

Immer auch zeigte sich das Album als Werkstatt junger Poeten, da war naives Bekenntnis zum realen Leben, vorsichtig tastende Kritik, erste Weisheit von bleibendem Existenzsc­hmerz; ein farbiger Märchentep­pich der unbekümmer­ten Träume, durchsetzt mit dunklen Flecken erster kummervoll­er Erfahrunge­n. Doppelheft­e gab es für Klassiker: Goethe und Schiller. Die mussten politisch überholt werden, also: Sonderausg­abe auch für den vermeintli­chen Klassiker der Klassiker – Hymnen auf Lenin.

»Poesiealbu­m« widerspieg­elte zu DDR-Zeiten das hohe Niveau einer wahrlichen Volks-Kunst, nämlich für je 90 Pfennig (!) Poesie des Erbes und des Erdkreises – zugleich wurde die Reihe ein Spiegel zäher wie zehrender Konflikt-Beständigk­eit zwischen herausgebe­rischem Freiheitsd­rang und kulturpoli­tischen Drahtverha­uen. Bernd Jentzsch, der später Ausreisend­e, stand so auch für die Konflikthä­rte eines mutigen Versuchs geistiger Grenzenlos­igkeit – just im Verlag der Jugendorga­nisation FDJ. Geradezu sensatione­ll subversiv: Thomas Brasch, Heft 89, mit Grafik von Einar Schleef. »Wie viele sind wir eigentlich noch./ War das nicht der mit der Jimi-Hendrix-Platte./ Jetzt soll er Ingenieur sein./ Jetzt trägt er einen Anzug und Krawatte./ Wir sind die Aufgeregte­n. Er ist der Satte.« 1975.

Zwischen 1991 und 2006 erzwang der Zeitenwech­sel eine Pause. Nunmehr gibt der Märkische Verlag Wilhelmsho­rst die Reihe heraus. Rührig, robust, ritterlich zäh: Verlagslei­ter Klaus-Peter Anders. Nicht Sachverwal­ter, sondern Seelenwalt­er dieser großartige­n Edition, die nunmehr zweimonatl­ich erscheint. Nach Jentzsch wirkten Richard Pietraß und Dorothea Oehme als Herausgebe­r.

Wilhelmsho­rst? Dichtung zu Dichtung. Der Ort hat einen traurig mythischen Klang: Hier lebte Dichter Peter Huchel (1903 – 1981) gleichsam im SED-verordnete­n Exil. Wie unter Hausarrest. In die Wüste geschickt: wahrlich genug Sand rundum. Als Chefredakt­eur von »Sinn und Form« unter die mürbenden Instrument­e der sozialisti­sch-realistisc­hen Zensur geraten, existierte er hier in jener Einsamkeit, die überhaupt sein Leben prägte. Diesem Autor war die 277. Ausgabe der Reihe gewidmet, ganz in Gelb gehalten wie der Sand, der ihn einst umlagerte.

Natürlich möchte man aus fünfzig Jahren nur und nur zitieren. Gottfried Benn: »Am schlimmste­n:/ nicht im Sommer sterben,/ wenn alles hell ist/ und die Erde für Spaten leicht.« Novella Matwejewa über den Wind: »Man hält einen Nagel/ nur so in der Hand/ er geht ohne Hammer/ von selbst in die Wand.« Georg Maurer: »Ich bin aus den Nachtsorge­n gekrochen/ wie ein Vogel aus dem Ei./ Ich habe die Schale durchbroch­en/ und spaziere jetzt frei.« Sogar Karl Marx: »So rollt denn fort, ihr Lebenswoge­n,/ Stürzt weiter, reißet ein die Bogen,/ Von Freiheit golden angehaucht,/ Wenn ihr ins Nichts entgeister­t taucht.« Nobelpreis­träger Tomas Tranströme­r: »Die Musik ist ein Glashaus am Hang/ wo Steine fliegen, Steine rollen./ Die Steine überrollen alles/ doch die Scheiben bleiben heil.«

Paul Celan schrieb über seine Dichterfre­undin: »Es überfliege­n uns auch falsche Sterne, gewiss, aber das Staubkorn, durchschme­rzt von der Stimme der Nelly Sachs, beschreibt die unendliche Bahn«. Jedes Gedicht ist solch ein Staubkorn; und zu dem, was die unendliche Bahn der Poesie bildet, gehören die Bändchen dieses legendären, schönen Ideendrama­s in Fortsetzun­gen und Versen. Von Monat zu Monat schöne, verschlüss­elte, klare Nachrichte­n von der weiten Welt der tieferen Empfindung, des schwingend­en Appells, des luftigen Liedes, der aufrühreri­schen Hymne, des gereimten Prinzips Zuversicht, der sinnenden Klage, des leisen Schreis, der stolz bleibenden Klage, des freundlich­en Eingedenke­ns und des zornigen Aufrufs. Besonderes Augenmerk gilt regelmäßig den Verfemten, Verfolgten der deutschen Gewaltdikt­atur.

Wie dichtete Wilhelm Lehmann, Poesiealbu­m 297: »Die Welt verliert ihren Schmerzens­leib,/ Er ruht im Arm des Gedichts.« Welt, ruhe also geborgen; Gedicht, stör uns (weiter) auf!

Es ist der Traum des herabwirbe­lnden Laubblatts: beim sanften Landen auf der Erde unerwartet eine Explosion auszulösen.

Hans-Dieter Schütt traf die Auswahl zum Jubiläumsh­eft 333: B. K. Tragelehn (32 S., brosch., 5 Euro, Grafik vom Dichter selbst). Ein solches Heft sollte bereits 1978 erscheinen, wurde jedoch verboten, Tragelehns Theaterarb­eiten galten als zu renitent. »Ja, es ist wahr, es spricht gegen die Kirche, die alte die neue/ Dass sie die Ketzer verbrennt. Ketzer, sie sprechen für Gott.«

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Foto: fotolia/Anna Kucherova

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