Weiterleben ohne Plan Wie ist die Situation in Raqqa jetzt? Selbst wenn der IS aus Syrien und Irak vertrieben werden sollte: Von der Ideologie werden Menschen weiterhin angezogen sein. Was lässt sich dagegen tun?
Medienaktivist Abdalaziz Alhamza über die Propaganda-Maschine des Islamischen Staats
Abdalaziz Alhamza gründete 2014 in Syrien die Monitoring- und Informationsgruppe »Raqqa is Being Slaughtered Silently«. Gebürtig in Raqqa, lebt er mittlerweile unter Personenschutz in Deutschland. Einige Aktivisten der Gruppe blieben jedoch über die Zeit der Besetzung durch den IS in Raqqa und berichten auch in der neuen Situation unter der Herrschaft der kurdisch dominierten Demokratischen Kräfte Syriens (DKS) und YPG über Menschenrechtsverletzungen. Anlässlich der Tagung »Terror Feeds. Inside the Fear Machine« sprach Tom Mustroph mit Alhamza über Strukturen und Wirkungen der Propaganda- und Rekrutierungsmaschine des Islamischen Staats (IS). Abdalaziz Alhamza, was lässt sich über die Größe des Medienapparats des IS in dessen einstiger Hauptstadt Raqqa sagen?
Wie viele Menschen dort für den IS arbeiteten, ist schwer einzuschätzen. Wir wissen, dass sie Millionen Dollar dafür ausgaben. Sie produzierten Videos in Hollywood-Qualität und Printmagazine. Sie rekrutierten damit 40 000 bis 60 000 Kämpfer aus 84 Ländern weltweit, die sich dem IS in Syrien und Irak anschlossen. Obwohl ihr Territorium kleiner wird, produzieren sie weiter. Und man muss auch festhalten, dass viele, die für den Propagandaapparat arbeiten, das aus dem Ausland tun, aus Europa und sicherlich auch aus Deutschland.
Die Wirkung auf die ausländischen Kämpfer des IS ist recht gut bekannt. Sie lässt sich an den Rekrutierungszahlen ablesen. Wie war die Wirkung in Raqqa selbst? Haben die Bewohner, haben Ihre einstigen Nachbarn und Freunde die IS-Propaganda geglaubt?
Nein, die Mehrheit hat das nicht geglaubt. Nur etwa ein Prozent der Bevölkerung in Raqqa hat sich dem IS angeschlossen. Dem IS beizutreten, bedeutete, ein Einkommen zu haben, ein Haus, ein Auto zu finanzieren, Frauen zu haben und so weiter. Aber selbst wenn die Leute unter sehr schwierigen Bedingungen lebten und kein Geld hatten, waren es trotz all dieser Anreize nur wenige, die dem IS folgten.
Wie war die Mediensituation insgesamt? Wie konnte man sich informieren?
Letztlich kontrollierte der IS fast alles. Das Fernsehen wurde mit der Übernahme der Stadt abgeschaltet. Es gab nur die Videos, die Zeitungen und das Radio des IS. Auch der Zugang zum Internet, eine Zeit lang noch die einzige unabhängige Informationsquelle, wurde durch die Vergabe von Lizenzen für die Internetcafés reglementiert. Wir haben uns dann entschlossen, ein eigenes Magazin zu produzieren und es mit dem Titelbild des »Dabiq«-Magazins des IS zu verteilen. Wir haben so andere Informationen unter die Leute gebracht.
Das erinnert an die illegalen Zeitungen, die während der NS-Zeit nach Deutschland geschmuggelt wurden. In welcher Frequenz kam Ihr Magazin heraus?
Wir waren ja allesamt Freiwillige, verfügten nicht über Geld. Wir konnten daher nicht Zehntausende Magazine drucken. Aber wir schafften es, die Magazine in der Stadt zu drucken und zu verteilen.
Wie haben die Leute darauf reagiert? Waren sie verängstigt oder froh, etwas anderes lesen zu können?
Verängstigt waren sie nicht. Es hatte ja dasselbe Cover wie das IS-Magazin, und sie konnten immer sagen: »Das ist doch von euch.« Manche haben es auch weiter für das IS-Magazin gehalten und sich nur gewundert, dass es jetzt so säkular wurde. Insgesamt hatten wir ein gutes Feedback.
Wie gefährlich war es, Informationen über Raqqa und über das Weltgeschehen in Raqqa zu verbreiten? Es war sehr gefährlich. Einige Freunde, Familienmitglieder und Kollegen wurden umgebracht, nicht nur in den IS-Territorien, sondern auch in der Türkei.
Es ist nicht leicht. 90 Prozent der Stadt sind zerstört, viele Menschen wurden getötet. Aktuell ist es so, dass die kurdische Miliz YPG Minderjährige bewaffnet und in den Kampf gegen den IS schickt. Die Stadt steht unter einer Militärverwaltung. Zivile Organisationen haben es schwer. Einen Plan für den Wiederaufbau gibt es nicht.
Wird die Gruppe »Raqqa is Being Slaughtered Silently« die Arbeit fortsetzen, oder ist mit der Befreiung vom IS der wichtigste Anlass für diese Arbeit entfallen?
Natürlich werden wir weitermachen. Es gibt weiter Menschenrechtsverletzungen, jetzt nur von anderen Gruppen. Die internationalen Medien waren vor allem auf den IS fokussiert. Was jetzt geschieht, findet weniger Beachtung.
In Europa wird jetzt vor allem diskutiert, was geschieht, wenn viele der IS-Kämpfer untertauchen und in ihre Herkunftsländer zurückkehren, beispielsweise nach Deutschland, Belgien, Frankreich oder Schweden. Was hat Ihre Organisation da an Bewegungen mitbekommen? In den Niederlanden hat Ihre Gruppe ja sogar einen IS-Kämpfer identifiziert, der bei einer Veranstaltung auftauchte.
Ja, wir zeigten unseren Film, und dann sagte einer meiner Kollegen: »Ich kenne diesen Mann. Er war beim IS.« Sie haben dann den Behörden in den Niederlanden Bescheid gesagt. Generell können wir das aber nicht überschauen. Die europäischen Regierungen sollten schon selbst wissen, welche ihrer Staatsbürger zum Krieg nach Syrien und Irak gezogen sind. Es gibt allerdings viele Wege, um zurückzukommen. Wir beobachten Kontakte. Man muss auch aufpassen, ob Kämpfer, die vom IS als tot gemeldet wurden, doch noch am Leben sind. Nicht jeder, der für tot erklärt ist, ist tatsächlich gestorben.
Sie sagten, dass die Menschen in Raqqa auch unter der neuen Situation leiden, dass sie rechtlos sind. Wie groß ist die Gefahr, dass sie jetzt radikalisiert werden?
Das ist eine große Gefahr mit den neuen Kräften in der Stadt. Vielen Familien ist es geglückt, ihre Kinder vom Militärdienst abzuhalten und auch vom IS fernzuhalten. Aber jetzt werden viele Jugendliche von SDF (Demokratische Kräfte Syriens) und YPG gezwungen zu kämpfen. Wenn sie zurückkommen und wenn die anderen zurückkommen, die schon länger gekämpft haben: Was werden sie vorfinden? Eine fast vollständig zerstörte Stadt, für die es zurzeit gar keinen Aufbauplan gibt.
Man kann diese Ideologie nicht mit Luftangriffen und Drohnenkriegen bekämpfen. Man muss die Menschen aufklären, in Bildung investieren.