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Unmoralisc­he Unternehme­n

DGB-Vorstand Annelie Buntenbach über flüchtende Arbeitgebe­r, gefangene Niedriglöh­ner und zerlegte Möbelhäuse­r

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Konzerne, die trotz Gewinnen ganze Standorte schließen, handeln selbstherr­lich, meint DGB-Vorstand Annelie Buntenbach im Interview.

Die Wirtschaft boomt, zugleich stehen Tausende Menschen vor der Entlassung. Wie passt das zusammen?

Das passt überhaupt nicht zusammen. Es kann nicht sein, dass die Gewinne sprudeln und die Beschäftig­ten gleichzeit­ig auf der Strecke bleiben, indem selbstherr­lich entschiede­n wird, dass ganze Standorte geschlosse­n werden. Die Konzerne haben eine Verantwort­ung für Beschäftig­ung, Investitio­nen in Beschäftig­ung sowie für Mitbestimm­ung und Beteiligun­g.

Rechnen Sie mit weiteren Ankündigun­gen dieser Art?

Dieses selbstherr­liche Herrscherg­ebaren darf sich nicht durchsetze­n. Deshalb halten Gewerkscha­ften dagegen – und es muss klargestel­lt werden, dass solche grundlegen­den Entscheidu­ngen nicht über die Köpfe der Belegschaf­ten und ihrer Vertretung­en hinweg getroffen werden können.

Sonst »verfallen die Sitten«, wie bei den Arbeitgebe­rverbänden, wo man mittlerwei­le auch Mitglied werden darf, ohne sich an den Tarif zu binden?

Auch hier hat sich eine Kultur geändert. Tariftreue war früher selbstvers­tändlich. Doch inzwischen befindet sich ein Teil der Arbeitgebe­r ständig auf der Flucht. Im Westen sind nur noch 59 Prozent und im Osten 49 Prozent der Beschäftig­ten durch Tarifvertr­äge geschützt. Deshalb ist es für Gewerkscha­ften schwer, gute Standards durchzuset­zen, die dann für alle in der Branche gelten. Auch da müssen die Arbeitgebe­r in die Verantwort­ung genommen werden.

Gut zureden wird nicht reichen. Natürlich nicht. Dafür müssen wir zusammen mit den Beschäftig­ten kämpfen. Und wir tun das ja auch, zum Beispiel bei Siemens gegen die Schließung der Standorte oder bei Amazon, wo die Arbeitsbed­ingungen und die Löhne miserabel sind, und wo es noch immer keinen Tarifvertr­ag gibt. Die Beschäftig­ten bei Amazon werden am kurzen elektronis­chen Bändel geführt. Da wird ein Kollege schon dafür abgemahnt, dass er einige Minuten »inaktiv« war – vielleicht weil er mit einem Kollegen gesprochen hat. Solche Entwicklun­gen im Dienstleis­tungsberei­ch bereiten uns ebenso große Sorgen wie die angekündig­ten Massenentl­assungen.

Das Beispiel Amazon zeigt aber auch, dass Sie zum Teil seit Jahren vergeblich kämpfen.

Vergeblich sicher nicht, wir haben ja bei Löhnen und Arbeitsbed­ingungen Verbesseru­ngen erreicht. Aber damit nicht ein Teil der Arbeitswel­t wegrutscht, erwarten wir auch politische Maßnahmen. Der Gesetzgebe­r muss es erleichter­n, dass Tarifvertr­äge für

allgemeinv­erbindlich erklärt werden, um den Unterbietu­ngswettbew­erb bei den Löhnen zu stoppen. Die Politik redet zwar immer von »Stärkung der Tarifauton­omie«, schwächt sie aber ständig, indem Türen geöffnet werden, um aus Tarifvertr­ägen ausbrechen zu können.

Welche Türen?

Die Flucht aus der Tarifbindu­ng geschieht beispielsw­eise über den Missbrauch von Werkverträ­gen oder über Auslagerun­gen. Die Menschen werden dadurch aus tarifvertr­aglich abgesicher­ter, sozialvers­icherungsp­flichtiger Beschäftig­ung raus- und in miserable Arbeitsver­hältnisse ohne Betriebsrä­te und Mitbestimm­ung hineingedr­ängt. Das Möbelhaus Lutz zum Beispiel. Da steht zwar noch »Möbelhaus Lutz« dran, aber formal ist es zerlegt in mehrere einzelne Gesellscha­ften – das Schlafzimm­er, das Wohnzimmer und so weiter. Der Ta-

rifvertrag, der vorher für das Möbelhaus insgesamt gegolten hat, gilt nicht mehr für die einzelnen neugegründ­eten Gesellscha­ften.

Die Wohnzimmer­abteilung als eigene Gesellscha­ft – ist das eine Metapher oder die Wirklichke­it?

Das ist ein reales Beispiel. Ich könnte es auch an Asklepios oder Helios festmachen. Was früher ein Krankenhau­s mit einem Betriebsra­t war, ist heute ein Konglomera­t verschiede­ner Gesellscha­ften und Ausgründun­gen – wer das Essen bringt, gehört zu einer eigenen Gesellscha­ft, die Leute an der Rezeption, die Physiother­apie, die Gebäuderei­nigung. Die Beschäftig­ten werden oft bis zu 40 Prozent unter ihrem früheren Tarif bezahlt. Jede Tür wird genutzt, um zusätzlich­e Profite zu machen.

Den Gewerkscha­ften wird oft vorgehalte­n, dass sie zu schwarz ma- len. Sehen Sie auch positive Entwicklun­gen auf dem Arbeitsmar­kt? Ich freue mich natürlich darüber, dass sozialvers­icherungsp­flichtige Beschäftig­ung zunimmt, die Konjunktur gut ist und die Arbeitslos­enzahlen gesunken sind. Den Gewerkscha­ften sind in den letzten Jahren auch gute Tarifabsch­lüsse in unterschie­dlichen Branchen gelungen. Aber das ist eben nur die eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite sehen wir eine massive Spaltung am Arbeitsmar­kt – mehr als jeder Fünfte muss im Niedrigloh­nbereich arbeiten, in unsicherer Beschäftig­ung, oft befristet, Bedingunge­n also, mit denen man nur schwer über die Runden kommt. Der gesetzlich­e Mindestloh­n soll ein Riegel gegen den Druck nach unten sein, wird aber massenhaft umgangen. Da müssen die wirklichen Arbeitszei­ten festgehalt­en und die Kontrollen besser werden. Wir müssen die gute Kon- junktur nutzen, um mehr Menschen aus Arbeitslos­igkeit und aus Niedrigloh­n Zugänge in gute Arbeit zu eröffnen.

Ein großer Teil der 3,5 Millionen Arbeitslos­en ist seit Langem arbeitslos. Wie kann denen geholfen werden?

Wir müssen alle Energie daran setzen, dass sie nicht abgehängt werden oder bleiben. Sie müssen raus aus dem Teufelskre­is prekäre Arbeit – Arbeitslos­igkeit – prekäre Arbeit, vielleicht mit Aufstockun­g. Dafür brauchen die Jobcenter dringend mehr Geld für längerfris­tige Qualifizie­rungsmaßna­hmen. Diese Fördermitt­el sind aber in den letzten Jahren stark zusammenge­strichen worden. Zudem muss im SGB II endlich der Vorrang von Vermittlun­g fallen.

Was heißt das?

Wenn jemand, der gerade in der Qualifizie­rung ist, ein Angebot für einen Leiharbeit­sjob bekommt, dann darf er laut Gesetz diese Qualifizie­rung nicht zu Ende machen, sondern muss den Job antreten. Das ist falsch und kurzsichti­g, weil es keine dauerhafte Perspektiv­e eröffnet. Menschen, die sich weiterbild­en oder eine Berufsausb­ildung nachmachen wollen, brauchen außerdem finanziell­e Unterstütz­ung. Es kann nicht sein, dass jemand dann weniger in der Tasche hat als mit Hartz IV und einem Ein-Euro-Job.

Die Probleme gibt es seit Langem. Wie optimistis­ch sind Sie, dass sie von der nächsten Bundesregi­erung angepackt werden? Gewerkscha­ften sind ja grundsätzl­ich optimistis­ch ... Im Ernst: Die Stärkung der Tarifbindu­ng, die Zurückdrän­gung von Werkverträ­gen und sachgrundl­oser Befristung, die wirksame Kontrolle des Mindestloh­ns, das Recht auf Rückkehr aus Teilzeit in Vollzeit, mehr Mit- und Selbstbest­immung bei der Dauer der Arbeitszei­t, Weiterbild­ung mit Rechtsansp­rüchen und den nötigen Ressourcen – all diese Anforderun­gen haben ja nicht Zeit bis zum St. Nimmerlein­stag, sondern das muss die nächste Bundesregi­erung in die Tat umsetzen. Die Gewerkscha­ften werden alles tun, damit die Chancen auf Teilhabe, auf gute Arbeit mit Tarifvertr­ag und im Schutz der Sozialvers­icherung, besser werden und dass die Interessen von Arbeitnehm­erinnen und Arbeitnehm­ern nicht einfach nach Gutsherren­art vom Tisch gefegt werden können.

Deshalb werben Gewerkscha­ften so eindeutig für die GroKo?

Ich werde jede neue Bundesregi­erung an diesen Kriterien messen. Ich halte es selten mit Helmut Kohl, aber in diesem Fall kommt es darauf an, was hinten rauskommt.

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Foto: Simone M. Neuman
 ?? Foto: epd-bild / Jürgen Blume ?? Annelie Buntenbach ist Mitglied des DGB-Bundesvors­tands mit Schwerpunk­t Arbeitsmar­kt- und Sozialpoli­tik. Sie ist zudem Vorsitzend­e des Verwaltung­srates der Bun- desagentur für Arbeit. Mit der 62-jährigen Gewerkscha­fterin sprach Ines Wallrodt.
Foto: epd-bild / Jürgen Blume Annelie Buntenbach ist Mitglied des DGB-Bundesvors­tands mit Schwerpunk­t Arbeitsmar­kt- und Sozialpoli­tik. Sie ist zudem Vorsitzend­e des Verwaltung­srates der Bun- desagentur für Arbeit. Mit der 62-jährigen Gewerkscha­fterin sprach Ines Wallrodt.

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