Dubiose Gesellschaft
Bertolt Brecht könnte schon zum Jahreswechsel gewusst haben, dass im Februar 1933 der Reichstag brennen würde
Wurde Brecht im Voraus über den Reichstagsbrand informiert?
Brecht verließ Deutschland am Tag nach dem Reichstagsbrand. Seine Flucht aber war akribisch vorbereitet. War er womöglich über die bevorstehenden Ereignisse informiert? Und falls ja, von wem? Am 31. Dezember 1932 versammelten sich in Bertolt Brechts Berliner Wohnung, Hardenbergstraße 1A, Arnolt Bronnen, Ernst von Salomon, Rudolf Schlichter sowie weitere Rechtsnationalisten, darunter vermutlich Ernst Jünger, um mit dem Gastgeber den Jahreswechsel zu feiern. Um Mitternacht stießen sie gemeinsam an »auf einen glücklichen, unblutigen Rechtsputsch«, so überliefert es wörtlich der befreundete Soziologe Fritz Sternberg in seinen Erinnerungen an Brecht, »Der Dichter und die Ratio«.
Sternberg war es auch, der Brechts Reaktion auf die Ereignisse am 1. Mai 1929 bezeugte. Brecht war an jenem Tag zu Besuch bei Sternberg, der unweit vom Karl-Liebknecht-Haus der
Handschriftlicher Vermerk auf einem Foto, das Brecht am Schreibtisch seiner Wohnung zeigt
KPD wohnte. Dort trafen sich die Demonstranten, um trotz des polizeilichen Verbots den Tag der Arbeit zu feiern. Brecht wurde unmittelbarer Zeuge des Massakers, das die Polizei unter den friedlichen Teilnehmern der Mai-Demonstration anrichtete. Dieser Tag ging als »Berliner Blutmai« in die Geschichte ein, und er wurde auch für Brecht ein einschneidendes und viel zitiertes Ereignis seiner Biografie. Sternberg berichtet: »Als Brecht die Schüsse hörte und sah, daß Menschen getroffen wurden, wurde er so weiß im Gesicht, wie ich ihn nie zuvor in meinem Leben gesehen hatte. Ich glaube, es war nicht zuletzt dieses Erlebnis, was ihn dann immer stärker zu den Kommunisten trieb.«
Die Gesellschaft, die sich am Silvester-Tag 1932 versammelte, bestand – vom linken Soziologen Sternberg und Brecht selbst abgesehen – ausschließlich aus konservativen, wenn nicht gar rechtsradikalen Zeitgenossen. Brechts Freundschaften mit dem Maler Schlichter und dem Dichter Bronnen blickten auf Jahre zurück, und sie bestanden trotz zum Teil radikal veränderter politischer Überzeugungen noch zu diesem Zeitpunkt. Brecht hatte es womöglich den beiden Freunden überlassen, wen sie ihrerseits zur Silvesterfeier mitbrachten: der Schlichter den Jünger, die inzwischen Blutsbrüder geworden waren, der Jünger den Salomon oder der Bronnen diese beiden und die wiederum weitere, namentlich nicht überlieferte Teilnehmer.
Arnolt Bronnen, der ehemalige Rebell und Verfasser des berühmten Dramas »Vatermord« (1920), trat zu dieser Zeit längst offen als Parteigänger der Nazis auf. Rudolf Schlichter war 1927 zum Katholizismus konvertiert; er lebte nach seinem ausschweifenden Leben als Zuhälter und landesweit bekannter Pornografist in Wort, Bild und Tat von nun an in bußfertiger Abgeschiedenheit und pinselte im Schwarzwald naturalistische Ölschinken. Der zwielichtige Schreiberling Ernst von Salomon hatte als Beteiligter des Attentats auf Walter Rathenau (1922) im Knast gesessen (bis 1927) und am Reichstag gezündelt (1929), ohne dass er dafür zur Rechenschaft gezogen wurde.
Über Ernst Jüngers Gesinnung gab es keine Zweifel; er trat offen als Verherrlicher der Materialschlachten des Ersten Weltkriegs auf. Dass Brecht und Jünger sich nicht grün waren und offen angifteten, ist aus Schlichters Atelier bezeugt. Wie es mit Salomons Neigungen zu Brecht stand, ist nicht bekannt – wohl aber, dass Salomon in direktem, vielleicht sogar engstem Kontakt mit dem schwulen SA-Stabschef Ernst Röhm stand; dieser sah für den Vorbestraften ein hohes Amt in der künftigen nationalistischen Regierung vor. Brecht hatte dem mächtigen SA-Hauptmann Röhm schon deutliche Verse gewidmet, etwa im Lied »Der Führer hat gesagt« vom Herbst 1932. Man kannte sich jedenfalls zum Teil gut, zu gut vielleicht.
Wie immer diese wahrlich illustre Gesellschaft zustande gekommen und wie spannungsreich der Abend auch verlaufen sein mag, so handelt es sich doch um eines der merkwürdigsten Ereignisse des gerade erst beginnenden, an Ereignissen wahrlich nicht armen Jahres 1933, jedenfalls für die Literaturgeschichte und womöglich auch für die deutsche Geschichte. Obwohl Sternberg auch dieses Datum wie das des Blutmai ausführlich in seinen Erinnerungen übermittelte, wurde diese dubiose Verschwörerrunde bis dato nie nach ihrer möglichen Bedeutung befragt.
Man könnte die Sache weiterhin auf sich beruhen lassen, als eine wie üblich ausschweifende Silvesterfeier unter Betrunkenen, denen am Ende alles recht war und die am nächsten Morgen alles vergessen hatten, wenn es nicht weitere Merkwürdigkeiten gäbe. Brecht bereitete nämlich nach dieser Feier sofort und trotz der Tatsache, dass er noch eine Operation überstehen musste, seine Flucht aus Deutschland vor, und zwar sorgfältig, wenn man will: geradezu generalstabsmäßig.
Eine Flucht, die die ganze Familie umfasst, fällt auf. Also verteilten die Brechts die einzelnen Mitglieder unauffällig: den Sohn Stefan nahm Elisabeth Hauptmann in Obhut; die zweieinhalbjährige Tochter Babara fuhr mit Mari Hold, der Hausdame, zum wohlsituierten Großvater nach Augsburg; die als Kommunistin gefährdete Freundin Margarete Steffin verlegte ihre Kur nach Agra bei Lugano ins Mann’sche »Zauberberg«Milieu (das sehr teuer war und von Brecht bezahlt werden musste), und der musikalische, als Kommunist zeichnende Freund Hanns Eisler meldete sich vorsichtshalber ab dem 24. Februar in Wien als neuer Bürger der Stadt an. Brecht kurierte derweil in der Berliner Privatklinik des Dr. Mayer in der Augsburger Straße die Folgen seiner Operation aus, vermutlich bis zum 26. Februar 1933 – dem letztmöglichen Termin vor dem Reichstagsbrand in der Nacht des darauffolgenden Tages.
Zur Tarnung braucht man zudem eine berufliche Einladung, die der Ausreise ein amtliches Siegel aufdrückt. Diese Einladung besorgte sich Brecht bei Karl Kraus über den Wiener Buchhändler Richard Lanyi, der auf diese Weise als Nebenperson in diese Geschichte einging. Lanyi zeichnete als Veranstalter und legte spätestens Anfang Februar 1933 in seinem Laden den Programmzettel aus, der Brechts Vortrag für den 16. März in Wien ankündigte, einen Vortrag über das epische Theater, den Brecht dann, als die Flucht geglückt war, gar nicht mehr zu halten brauchte.
Überdies gibt es ein Foto von Brecht, das ihn bei strahlendem Sonnenschein ablichtet, am Schreibtisch seiner Wohnung sitzend. Brecht versah es mit dem handschriftlichen Vermerk: »febr. 33 / die kisten sind gepackt«. Das späteste Datum dieser Aufnahme kann nur der 27. Februar innerhalb der wenigen Sonnenstunden des Tages gewesen sein, sodass die immer noch übliche Annahme, Brecht sei da noch in der Klinik gewesen, nicht zutreffen kann. Zudem besagt die Unterschrift: Kein ordentlicher Umzug ist angesagt, man flieht mit dem Notwendigsten, möglichst unauffällig und – nicht zu vergessen – für lange, sehr lange Zeit.
Das war zu arrangieren und vorzubereiten. Die Fluchtstrecke – unauffällig in Richtung Osten über Prag – musste ausgewählt, die Fahrkarten mussten gekauft werden. Schließlich mussten zur Vorsicht – der Freund Wieland Herzfelde mied schon seit Anfang Februar 1933 die eigene Wohnung – hilfsbereite Bekannte zur Verfügung stehen, um das flüchtende Ehepaar über die kurze Nacht bei sich aufzunehmen, damit sie den Zug nicht verpassten. Es handelte sich um die Nacht vom 27. auf den 28. Februar. Wo Brecht jene Nacht verbrachte, geht aus einem seiner ersten Briefe hervor, die er nach dem Krieg in Richtung Europa sandte – an den Verleger Peter Suhrkamp: »Sie waren einer der letzten, die ich in D. sah – ging ich doch von Ihrer Wohnung an die Bahn am Tag nach dem Reichstagsbrand; ich habe Ihnen Ihre Hilfe bei meiner Flucht nicht vergessen.«
In den offiziellen Annalen Brechts steht nach wie vor, hier in der Kurzform nach Werner Hechts BrechtChronik zitiert, unter dem 27. Februar 1933: »Für B ist der Brand Anlaß für die Flucht«, und so wurde es und wird es weiter und weiter kolportiert. Nach allen Verlautbarungen brannte der Reichstag in den Abendstunden des 27. Februar, gegen (oder kurz nach) 21 Uhr. Der Brand wurde frühestens eine Stunde später allgemein publik.
Bekannt ist auch, wie Hermann Göring später zugab, dass die Nazis in dieser Nacht im sogenannten Deutschen Reich wohl vorbereitet und flächendeckend (nicht nur in Berlin) die Wohnungen von angeblichen Staatsfeinden, vor allem von Kommunisten, stürmten und ihre Bewohner in die bekannte »Schutzhaft« nahmen. Bekannt dagegen ist nicht: Wie kam es, dass Brecht unter verschärften Bedingungen so genau, ja bis auf die letzte Minute, seine Flucht vorbereitete und mit aller Vorsicht mit Hilfe von nur bedingt als Freunde zu bezeichnenden Helfern – wie Peter Suhrkamp – durchführte? Danach wird bis heute nicht gefragt.
Wenn Brecht etwas wusste – es muss ja kein Wissen über diesen Brand, wohl aber eines über ein in diesem Maßstab geplantes Ereignis gewesen sein –, wenn Brecht also von etwas wusste, das ihn zwang, Deutschland schnellstens und womöglich noch nicht einmal auskuriert zu verlassen, dann muss jene denkwürdige Silvesternacht des Jahreswechsels 1932/33 dazu nicht nur der »Anlass«, sondern vielmehr der eigentliche Grund gewesen sein. Eine Nacht, die wohlgemerkt noch vor der Machtübergabe an Hitler stattfand.
Wenn dem so ist, dann kann die von der konservativen Historiographie verbreitete Mär, die Nazis hätten mit dem Reichstagsbrand nichts zu tun gehabt (außer ihn zu »nutzen«), nicht weiter aufrecht erhalten werden. Das hieße in der Konsequenz auch: Die Geschichtsschreibung müsste nicht nur auf diesem Gebiet der »deutschen Misere« neu antreten.
Aber auch die Brecht-Forschung ist zu befragen: Wieso ist sie über das Datum nie gestolpert, über einen Stolperstein, der allerdings auch dadurch zu umgehen ist, dass man ihn erst gar nicht einbaut? So geschehen etwa in Werner Mittenzweis monumentaler Biografie, die immer noch als Brecht-Mythos gehandelt wird, und in Werner Hechts noch monumentalerer Chronik, die buchstäblich alles verzeichnet, nur eben dies nicht. Und zu schlechter Letzt ist im Brecht-Verlag Suhrkamp für 2018 eine »endgültige Biografie« des Stückeschreibers angekündigt, die (jedenfalls im englischen Original) davon auch nichts weiß – oder nichts wissen will?
»feb. 33 / die kisten sind gepackt«
Jan Knopf ist Mitherausgeber der Großen kommentierten Berliner und Frankfurter Ausgabe der Werke Brechts (GBA) bei Suhrkamp und Aufbau. 2012 erschien sein Buch »Bertolt Brecht. Lebenskunst in finsteren Zeiten. Biografie« (Hanser). Seit 1989 leitet er die Arbeitsstelle Bertolt Brecht (ABB) am Karlsruher Institut für Technologie.