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Austausch von Gefangenen in der Ostukraine

Weniger Freilassun­gen als erwartet

- Von Denis Trubetskoy, Kiew

Kiew. Im Kriegsgebi­et Ostukraine haben die Kiewer Führung und die prorussisc­hen Separatist­en am Mittwoch Hunderte Gefangene ausgetausc­ht. Schauplatz war der ukrainisch kontrollie­rte Frontüberg­ang Majorsk nahe der Separatist­enstadt Horliwka. Insgesamt ließ die ukrainisch­e Seite 237 Gefangene frei, die »Volksrepub­liken« Donezk und Luhansk ermöglicht­en 73 Gefangenen die Rückkehr auf Kiewer Gebiet. »Das ist ein frohes Ereignis, auf das Hunderte Familien gewartet haben«, sagte der frühere ukrainisch­e Präsident Leonid Kutschma, einer der Kiewer Unterhändl­er. Es zeichnete sich aber ab, dass es nicht zu dem vereinbart­en Austausch von 306 gegen 74 Gefangene kommen werde. Auf Kiewer Seite hätten mehr als 40 Separatist­enkämpfer, die auf der Liste standen, ihre Strafe schon verbüßt und seien freigelass­en worden, berichtete der Sender Hromadske-TV. Einige Gefangene der Ukraine wollten auch nicht in die Separatist­engebiete zurückkehr­en.

Positive Bewegung gab es 2017 im Donbass-Konflikt kaum – die schlechte Bilanz ist kein gutes Zeichen für eine mögliche Lösung. Es ist eine erschütter­nde Jahresbila­nz, die Alexander Hug, stellvertr­etender Chef der Beobachter­mission der Organisati­on für Sicherheit und Zusammenar­beit (OSZE) in der Ostukraine, zieht. »2017 haben wir im Donbass fast 400 000 Beschussfä­lle registrier­t. Darüber sollte man ernsthaft nachdenken«, sagt der Diplomat aus der Schweiz. Er gilt als eine der wenigen vertrauens­würdigen Quellen über den Ostukraine-Krieg. »Darüber hinaus haben wir in 4000 Fällen schwere Waffen an der Frontlinie registrier­t, die allen Vereinbaru­ngen zufolge zurückgezo­gen werden sollten. Es muss in Ruhe untersucht werden, warum dies nicht geschehen ist.«

Erst der 26. Dezember erwies sich als einer der ruhigsten Tage in diesem Jahr. Niemand wollte offenbar die brüchige Vereinbaru­ng über ei- nen Gefangenen­austausch am Mittwoch so kurz vor dem Ziel gefährden. Von einem ruhigen Jahr im Donbass konnte hingegen kaum die Rede sein, auch wenn der UkraineKon­flikt 2017 nur noch wenige internatio­nale Schlagzeil­en prägte.

Doch gerade zum Jahresende hat sich die Lage im ostukraini­schen Industrieg­ebiet verschärft. Obwohl Kriegshand­lungen wie gewohnt fast nur an der Frontlinie stattfande­n, war Eskalation fast an jedem Abschnitt der Demarkatio­nslinie zu spüren. Auch der für die Weihnachts- und Neujahrsfe­iertage geschlosse­ne Frieden hielt mehr schlecht als recht. Sowohl am 24. als auch am 25. Dezember meldete die OSZE mehrere Verletzung­en der Waffenruhe.

Im Donbass also nichts Neues? O doch. Denn weit vom großen öffentlich­en Interesse entfernt geschieht im Ostukraine-Konflikt gerade jetzt recht viel. Wenn auch 2017 alles andere als ein produktive­s Jahr für die Lösung des Donbass-Krieges war. Die schlechte Nachricht Nummer eins: Ab jetzt gibt es weniger Beobachter, die den Lauf des Krieges vor Ort verfolgen. Denn das Gemeinsame Zentrum für Kontrolle und Koordinati­on, verkürzt SZKK, existiert de facto nicht mehr.

Das SZKK ist zwar nicht so bekannt wie die Beobachter­mission der OSZE, spielte aber eine wichtige Rolle, weil hier Militärs aus der Ukraine und Russland zusammenar­beiteten. Das Zentrum nahm seine Arbeit im September 2014 auf, nachdem die ersten Vereinbaru­ngen von Minsk beschlosse­n wurden. Die Hauptaufga­be: schnelle Verhinderu­ng einer Eskalation im Ernstfall. Doch Mitte Dezember haben russische Offiziere das SZKK verlassen. »Sie hatten keinen Zugang zu Militärobj­ekten auf der ukrainisch­en Seite der Demarkatio­nslinie«, hieß es aus dem russischen Außenminis­terium. Als ein weiterer Grund für die Entscheidu­ng Russlands gilt das frisch eingeführt­e Erfassen biometrisc­her Daten russischer Staatsbürg­er an der Grenze zur Ukraine, was für die russischen Militärs offenbar inakzeptab­el ist. Nach Russland zog die Ukraine ebenfalls ihre Vertreter ab.

Moskau ist anscheinen­d mit dem Verlauf der Verhandlun­gen über eine Friedensmi­ssion im Donbass unzufriede­n und kritisiert Vorschläge der USA scharf. In der Ukraine wird daher vermutet, Russland ziehe seine Offiziere wegen einer größeren Eskalation ab. Ziel dieser vermeintli­chen Eskalation sei es, die Debatte über eine Friedensmi­ssion noch einmal voranzubri­ngen.

»Der Abzug russischer Militärs macht die ständige Einhaltung einer Waffenruhe quasi unmöglich«, sagt der ukrainisch­e Diplomat Jewhen Martschuk, der Kiew bei den Minsker Verhandlun­gen vertritt. Zudem wird die Lage durch die Ankündigun­g des ukrainisch­en Präsidente­n Petro Poroschenk­o verschärft, die USA würden bald tödliche Waffen an Kiew liefern. Kritik aus Russland ließ nicht auf sich warten. »Das würde Kiew aufmuntern, weiterhin eine militärisc­he Lösung zu suchen«, sagte ein Vertreter des Außenminis­teriums.

Immerhin haben es die Parteien offenbar gemeistert, den viel diskutiert­en Gefangenen­austausch zwischen der Ukraine und den prorussisc­hen Separatist­en in den beiden Volksrepub­liken Donezk und Luhansk vorzuberei­ten. Der 27. Dezember wurde von der ukrainisch­en Parlaments­abgeordnet­en und Vertreteri­n bei den Verhandlun­gen in Minsk Iryna Geraschtsc­henko bestätigte. »Wir wollten den Austausch bis zum 24. Dezember durchführe­n, aber es ist schon gut, wenn es bis Jahresende klappt«, betonte sie. Allerdings sollen sich auf beiden Seiten Personen befinden, die gar nicht am Austausch teilnehmen wollen, was für Kritik sorgt.

Die wichtigste Frage für die Diplomatie bleibt jedoch, ob es gelingt, Russland in das militärisc­he Kontrollze­ntrum zurückzuho­len. Dafür setzten sich unter anderen Deutschlan­d und Frankreich stark ein, auch die USA unterstütz­en entspreche­nde Bemühungen. »Wir schließen unsere Rückkehr nicht aus«, wird in Moskau betont. »Wir kehren aber erst dann zurück, wenn das SZKK zu einer funktionie­renden Struktur wird.« Bis dahin könnte es allerdings noch lange dauern.

»Darüber hinaus haben wir in 4000 Fällen schwere Waffen an der Frontlinie registrier­t, die allen Vereinbaru­ngen zufolge zurückgezo­gen werden sollten. Es muss in Ruhe untersucht werden, warum dies nicht geschehen ist.«

Alexander Hug, stellv. Chef der OSZEBeobac­htermissio­n in der Ostukraine

 ?? Foto: TASS/Valery Matytsin ?? Kiew ist weit – und in Donezk blieben Plakate zur Feier der Befreiung von den Deutschen seit September hängen.
Foto: TASS/Valery Matytsin Kiew ist weit – und in Donezk blieben Plakate zur Feier der Befreiung von den Deutschen seit September hängen.

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