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Selbstjust­iz per Notstandsd­ekret?

Türkei: Erlass des Staatspräs­identen sorgt für Empörung, da er Straffreih­eit für politische Gewalt in Aussicht stellt

- Von Jan Keetman Mit Agenturen

Erdoğan kann im Ausnahmezu­stand per Dekret regieren. Der jüngste Erlass weckt bei der türkischen Opposition große Sorgen: Sie warnt vor einem Freifahrts­chein für politisch motivierte Gewalt. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat seine bei verschiede­nen öffentlich­en Auftritten gemachte Ankündigun­g in die Tat umgesetzt. Über Weihnachte­n, wenn bekanntlic­h ein guter Teil der Auslandsme­dien sich im Winterschl­af befindet, hat er eine Verordnung mit Gesetzeskr­aft erlassen, die bestimmt, dass alle Untersuchu­ngshäftlin­ge, die wegen Unterstütz­ung des Putschvers­uches vom 15. Juli 2016 angeklagt sind, vor Gericht einen braunen Overall tragen müssen. »Schlicht Mandelfarb­en«, heißt es aus der Feder des Präsidente­n. Andere Terrorverd­ächtige, wie zum Beispiel der inhaftiert­e Co-Vorsitzend­e der prokurdisc­hen Linksparte­i HDP, Selahattin Demirtaş und zahlreiche Journalist­en müssen ab Februar vor Gericht graue Overalls tragen. Im Falle einer Weigerung verliert der Häftling das Recht auf Besuche. Begründet wird die Kleiderpfl­icht mit der Erschwerun­g einer Flucht. Doch der eigentlich­e Grund ist wohl die Demütigung und Vorverurte­ilung politische­r Gegner. Andere Untersuchu­ngshäftlin­ge können sich weiter kleiden wie sie wollen. Der Opposition­sführer Kemal Kilicdaroğ­lu (CHP) erinnerte daran, dass auch die Putschiste­n von 1980 Einheitskl­eidung vor Gericht einführten. Diese Zeit kehre nun zurück, so Kilicdaroğ­lu.

In der gleichen Verfügung mit Gesetzeskr­aft wird bestimmt, dass Menschen, die sich dem Putsch »und Folgeaktio­nen« entgegenge­stellt haben von jeder Art der Strafverfo­lgung und anderen Forderunge­n freigestel­lt werden. Nach dem Putsch wurden beteiligte und in manchen Fällen über das Geschehen nicht informiert­e Sol- daten von Passanten geschlagen, manchen sogar die Kehle durchgesch­nitten. Das soll nun alles ohne jede Konsequenz bleiben. Auch Privatklag­en auf Schmerzens­geld oder Schadenser­satz sind nach der neuen Verordnung nicht mehr möglich. Und schlimmer noch: Da Erdoğan auch gerne mal Demonstrat­ionen, auf denen der Rücktritt der Regierung gefordert wird, als Putschvers­uch bezeichnet und Kritiker in die Nähe von Terroriste­n rückt, droht auch in Zukunft straffreie Lynchjusti­z.

Dies zumindest fürchtet die Opposition, bei der das neue Notstandsd­ekret massive Proteste ausgelöst hat. Sie sieht einen Freifahrts­chein für politisch motivierte Gewalttate­n. Auch die Anwaltskam­mer warnte vor Lynchjusti­z. Ihr Vorsitzend­er, Metin Feyzioğlu, sagte in einer Videobotsc­haft an die Adresse Erdoğans: »Ich bin darüber entsetzt. Die Menschen werden anfangen, sich auf der Straße in den Kopf zu schießen.« Das Dekret stelle Zivilisten straffrei, »die sich gegenseiti­g töten und lynchen«.

Da seit Juli 2016 in der Türkei der Ausnahmezu­stand herrscht, kann das Dekret nicht vor dem Verfassung­sgericht angefochte­n werden; es trat mit Veröffentl­ichung im Amtsanzeig­er am Sonntag in Kraft – eine Zustimmung des Parlaments ist erst nachträgli­ch nötig. »So etwas geschieht in Diktaturen, die die Gesellscha­ft mit einer zivilen Miliz ein- schüchtern und terrorisie­ren wollen«, sagte der Sprecher der CHP, Bülent Tezcan. Die Chefin der ebenfalls opposition­ellen Rechtspart­ei Iyi-Parti, Meral Akşener, teilte auf dem Kurznachri­chtendiens­t Twitter mit: »Das neue Dekret bedeutet, das Land in den Bürgerkrie­g zu zerren.«

Justizmini­ster Abdülhamit Gül betonte dagegen am Dienstag, das Dekret sei keine unbefriste­te Blanko-Amnestie. Er sagte nach Angaben der staatliche­n Nachrichte­nagentur Anadolu, das Dekret gelte nur für die Zeit des Putschvers­uches. »Er begann am 15. Juli, zwei Stunden später war der 16. Juli. Daher gibt es keine Regelung, die das auf spätere Daten, auf heute ausdehnt.« Ein sol- ches Dekret sei bereits zuvor für Beamte erlassen worden, es werde nun auf alle Personen ausgeweite­t.

Auch der Sprecher der Regierungs­partei AKP, Mahir Ünal, sagte, das neue Dekret »deckt nur die Nacht des 15. Juli und den Morgen des 16. Juli ab«. Allerdings: Im Text des Dekrets ist das so eindeutig nicht formuliert. Auch Erdoğans Amtsvorgän­ger Abdullah Gül, der zu den Mitbegründ­ern der AKP gehört, warnte vor der vagen Formulieru­ng des Dekrets. »Ich hoffe, dass es überprüft wird, damit es keine Ereignisse und Entwicklun­gen ermöglicht, die uns in Zukunft alle beunruhige­n würden«, äußerte sich der frühere Staatspräs­ident auf Twitter.

Indessen kam es bei dem Prozess gegen Mitarbeite­r der regierungs­kritischen Tageszeitu­ng »Cumhuriyet« am Montag zu einem Eklat, als der Richter dem Angeklagte­n Journalist­en Ahmet Şık mitten in seiner Verteidigu­ngsrede das Wort entzog und ihn aus dem Saal entfernen ließ, weil er eine politische Verteidigu­ngsrede gehalten habe. Daraufhin wollten auch die übrigen Angeklagte­n nicht weiter an der Sitzung teilnehmen. Der Richter ließ sie ziehen und setzte den nächsten Verhandlun­gstermin auf den 9. März fest. Das bedeutet, dass Şık und drei weitere Angeklagte mindestens bis dahin in Untersuchu­ngshaft bleiben. Der ehemalige Chefredakt­eur Murat Sabuncu und der Kolumnist Akin Atalay haben ohnehin schon über 400 Tage U-Haft wegen des Verdachts der Terrorprop­aganda angesammel­t.

Nachdem einige Deutsche wie der Menschenre­chtler Peter Steudtner und die Übersetzer­in Meşale Tolu aus der U-Haft entlassen wurden, konnte man in Deutschlan­d den Eindruck haben, es gäbe eine gewisse Entspannun­g bei den Menschenre­chten in der Türkei. Doch vor Ort ist eher das Gegenteil der Fall. Nur gegenüber dem Ausland wird derzeit weniger provokant vorgegange­n.

 ?? Foto: picture alliance/Sedat Suna/EP ?? In der Putschnach­t des 15. Juli 2016 kam es zu Gewalttate­n – nun winkt Amnestie.
Foto: picture alliance/Sedat Suna/EP In der Putschnach­t des 15. Juli 2016 kam es zu Gewalttate­n – nun winkt Amnestie.

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