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Lebende Bilder

Im Kino: »Loving Vincent« von Dorota Kobiela und Hugh Welchman – eine filmische Reise in die Gemäldewel­t van Goghs

- Von Gunnar Decker

Alle lieben Vincent van Gogh. Das war nicht immer so. Als er lebte, siebenundd­reißig Jahre lang, liebte man ihn überhaupt nicht. Weder den Menschen, den man schrecklic­h fand (ein Verrückter!), noch seine Bilder, die auf seine Umgebung wie der Spiegel dieses Wahnsinns wirkten. Schon seltsam, wenn die Liebe zu jemandem erfordert, dass er selbst nicht mehr anwesend ist.

Ungebildet­e Menschen? Nein, die van Goghs waren eine Familie, die erfolgreic­h mit Kunst handelte. Sein Bruder Theo wurde Kunsthändl­er, er selbst hatte als Sechzehnjä­hriger eine Kunsthändl­erlehre begonnen – und sie wieder abgebroche­n. Er konnte nicht verhandeln, er konnte nicht verkaufen, was er liebte. Sein Vater war Pfarrer, einer, der es weniger mit den Menschen als mit den Dogmen hielt, seine Mutter liebte einen anderen Vincent – seinen gleichnami­gen älteren Bruder, den erstgebore­nen Vincent, der kurz nach seiner Geburt starb. Vincent van Gogh war in der Familie immer der zweite Vincent, Ersatz für den eigentlich­en Vincent, der gestorben war. Er versuchte Pfarrer zu werden wie sein Vater, las viel (kaum ein Maler war so belesen wie er), aber auf das Labyrinth der Theologie mochte er sich nicht einlassen. Im Fiasko endete auch sein Versuch, Lehrer zu sein. Man wollte einen groben Pauker, aber keinen, der sich in die Kinderseel­e einfühlte.

Also landete er als Prediger in der Borinage, einem belgischen Bergbaugeb­iet, in dem ein heute unvorstell­bares Elend herrschte. Die Menschen akzeptiert­en ihn, weil er nichts für sich wollte, das Evangelium lebte. Doch als er schließlic­h Kircheneig­entum an notleidend­e Menschen verschenkt­e, wurde er selbst aus dieser niederen Funktion entlassen. In den Augen der bürgerlich­en Welt war er nun vollständi­g gescheiter­t.

Von da an perfektion­ierte er sein Malen, arbeitete wie ein Besessener. In den ihm noch verbleiben­den zehn Lebensjahr­en schaffte er, zwischen Höhenflüge­n und Abstürzen, ein Werk, das fast tausend Gemälde umfasst, von denen heute jedes einzelne Millionen wert ist. Ein Leben, das man immer wieder erzählen sollte, auch weil es die Absurdität­en unserer Verkaufs-Gesellscha­ft bloßstellt, gegen die Vincent van Gogh rebelliert­e – und der er am Ende doch unterlag.

»Loving Vincent« ist ein mutiges und zudem überaus aufwendige­s Experiment. Ein gemalter Film, der nicht nur in der Bilderwelt Vincent van Goghs spielt, sondern auch die Schauspiel­er in Figuren aus Bildern van Goghs rückverwan­delt. So beginnt die Bilderwelt, die Vincent van Gogh schuf und in der er sich bis zu seinem Tod in Auvers 1890 bewegte, auf merkwürdig­e Weise zu leben. Das ist ein bisschen wie »Nachts im Museum«, aber durchaus ambitionie­rt auf der Suche nach der Wahrheit über van Goghs Leben und seinen plötzliche­n Tod, der bis heute Fragen aufwirft.

Einen Satz van Goghs umkreisen die beiden Filmemache­r Dorota Kobiela und Hugh Welchman: »Und in der Tat können wir nicht anders, als durch unsere Gemälde zu sprechen.« So sehen wir dann Armand (Douglas Booth), den Sohn des von van Gogh häufig gemalten Postmeiste­rs Joseph Roulin, wie er, ein Jahr nach dem Tod Vincents, von seinem Vater den Auftrag erhält, einen aufgetauch­ten Brief van Goghs an dessen Bruder zu überbringe­n. Aber Theo ist kurz nach dem Tod Vincents verrückt geworden und in einer Anstalt gestorben.

So beginnt eine filmische Reise in die Gemäldewel­t van Goghs, in der seine Figuren über ihn sprechen, vom Pariser Farbenhänd­ler Tanguy bis zum ominösen Doktor Gachet in Auvers, der ebenfalls malte und von dem van Gogh sagte, er bedürfe ebenso dringend Hilfe wie er selbst. Wir hören und sehen berühmte Figuren aus van Goghs Bildern: Ikonen der modernen Kunst. Aber in ihnen stecken hier Schauspiel­er, denn es ist nur zur Hälfte ein Animations­film.

Die Orte und Landschaft­en, durch die Armand reist, wurden für diesen Film nach van Goghs Vorbild gemalt. Manche sind originalge­treue Kopien, manche auch Nachempfin­dungen anhand einzelner authentisc­her Details. Für diese sogenannte »Ölgemälde-Animations­technik« wurden 125 Maler beschäftig­t, den Film zu malen, was mehr meint, als eine Kulisse zu schaffen. Denn auch die Schauspiel­er wurden im Nachhinein wieder »übermalt«. Am Ende baute man dann in den Studios in London und Wrocław mittels Computerte­chnik insgesamt 65 000 Einzelbild­er zusammen, und heraus kam eine bislang ungekannte Form von Bilderkosm­os, der zu leben und zu handeln beginnt. Erfunden ist dabei nichts, jedoch auf ungewöhnli­che Weise montiert.

Ist das nun eine besonders avantgardi­stische Form des Umgangs mit Gemälden und einer Spielfilmh­andlung, die beides mittels Handwerk und Hightech zur Symbiose führt, oder doch eher etwas, das in die Rubrik Kitsch fällt? Wird hier van Goghs Bilderwelt vollends nutzbar gemacht für eigene Zwecke? Ist das vielleicht bloß eine besonders schamlose Form der Verwertung von etwas Einmaligem, dessen Gestus der Echtheit man nachahmt?

Man kann es, wenn man sehr puristisch ist, als ein Stück Film-Design sehen. Aber ich fände das van Gogh gegenüber nicht angemessen. Er war Autodidakt, der im letzten Drittel seines Lebens aus einem starken inneren Antrieb heraus eine Unmenge Bilder schuf. Ihm ging es um eine Kunst, die zu einer anderen Art von Leben führt. So gesehen darf man ihn also für eigene Projekte verwenden, wenn man nicht bloß auf schnellen Gewinn aus ist. Und das scheint bei »Loving Vincent« nicht der Fall. Dem polnischen Kameramann Łukasz Żal, der bereits mit »Ida« für einen Oscar nominiert wurde, gelingt es, die wechselnde­n Atmosphäre­n auf großartige Weise einzufange­n. Denn Vincent van Goghs Bilder sind vor allem LichtSymph­onien zwischen Tag und Nacht, zwischen Sonne, Mond und Gaslaterne.

Weil man jedoch keinen Film-Essay über Leben und Werk drehen wollte, entschiede­n sich die Filmemache­r dafür, Armand vor das Rätsel zu stellen: Wie starb van Gogh? Als er abends vom Malen in die Pension Ravoux in Auvers zurückwank­te, die Hand an den blutenden Bauch gepresst, antwortete er auf Fragen, er habe sich zu erschießen versucht. Der gerufene Doktor Gachet, mit dem sich van Gogh wegen dessen Tochter Marguerite zerstritte­nen hatte, weigert sich jedoch, den Versuch zu unternehme­n, die Kugel zu entfernen. Die Wunde entzündete sich, und zwei Tage später starb Vincent van Gogh unter Qualen.

Ein versuchter Selbstmord mittels Schuss in den Bauch? Oder war auf ihn, den verrückten Maler, geschossen worden? Es gibt im Nachhinein Indizien für vieles, will man den Detektiv spielen – doch die Welt der Bilder bleibt davon unberührt. Antonin Artaud hat es in »Der Selbstmörd­er durch die Gesellscha­ft« sehr viel drastische­r ausgedrück­t, als es dieser Film vermag: »Von van Goghs Nagel aufgekratz­t, zeigen die Landschaft­en ihr feindselig­es Fleisch, die Bissigkeit der aufgeschli­tzten geheimen Winkel, dass man anderersei­ts nicht weiß, welch seltsame Kraft gerade dabei ist, sich zu verwandeln.«

»Und in der Tat können wir nicht anders, als durch unsere Gemälde zu sprechen.« Vincent van Gogh

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Foto: Loving Vincent/Niederländ­isches Büro für Tourismus & Convention (NBTC)/obs Animation in Öl

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