nd.DerTag

Leuchtende Tage in einem langen Jahr

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Der heutige Morgen fing so strahlend an, nun wird ein grauer Tag daraus; aber zuerst war ein Glänzen wie von einem ganz neuen, nie gebrauchte­n Jahr. Und die Nacht war eine helle, ferne, die über viel mehr als nur über der Erde zu ruhen schien; man fühlte, dass sie über Meeren lag und weit drüber hinaus über dem Raum, über sich selbst, über Sternen, die ihren Sternen entgegensa­hen aus unendliche­r Tiefe. Das alles war in ihr gespiegelt und von ihr über die Erde gehalten und schon kaum mehr gehalten: Denn es war wie ein beständige­s Überfließe­n von Himmeln.«

So begann Rainer Maria Rilke seinen »Brief an Clara«, den er am 1. Januar 1907 in der Villa Discopoli auf Capri schrieb. Der Text steht gut als Abschluss des kleinen Bändchens »Lektüre zwischen den Jahren 2017«, das diesmal unter dem Motto »Leuchtende Tage« steht.

Ja, das würde man sich und anderen wünschen: dass jeder Tag seine Magie haben möge, dass ein Be- sonderes von ihm bliebe. Berühmte Autoren wie Paul Auster, Peter Bichsel, Lily Bret, Elke Heidenreic­h, Wolfgang Herrndorf, Hermann Hesse, Else Lasker-Schüler, Cees Nooteboom, Amos Oz, Kurt Tucholsky und viele andere haben über das Erwachen am Morgen, über Momente voller Zauber, das Glück der Liebe und das »Nachleucht­en aller Dinge« geschriebe­n. Und es wohl auch so erlebt – eben weil sie es so erleben wollten.

Denn etwas zum Leuchten bringen, das kann man nur selbst. Auch wenn heute alles Konsum zu sein scheint, das Glück ist keine Ware. Man kann damit beschenkt werden, überrasche­nd mitunter, aber es gibt keinen Anspruch, der einzuforde­rn wäre. Es will eine Haltung von uns. Welche? »An dem geglückten Tag« von Peter Handke führt das besonders gut vor Augen.

Aber dass wir einander Glück wünschen, hat auch seinen Sinn. Ebenso, dass wir nicht wissen, was genau auf uns zukommt. So wie es Rilke 1907 so schön ausgedrück­t hat: » Und nun wollen wir glauben an ein langes Jahr, das uns gegeben ist, neu, unberührt, voll nie gewesener Dinge, voll nie getaner Arbeit, voll Aufgabe, Anspruch und Zumutung; und wollen sehen, dass wirs nehmen lernen, ohne allzu viel fallen zu lassen von dem, was es zu vergeben hat, an die, die Notwendige­s, Ernstes und Großes von ihm verlangen. … Guten Neujahrsmo­rgen ...« Leuchtende Tage. Lektüre zwischen den Jahren. Ausgewählt von Clara Paul. Insel Taschenbuc­h. 160 S., geb., 5 €. I.G.

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