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Die Tränen der Louise Weiss

Daniel Schönpflug: »Kometenjah­re« ist das Werk eines Historiker­s und liest sich wie ein Roman

- Von Irmtraud Gutschke

Ein fasziniere­ndes Buch, auch wenn es Einwände gibt (doch dazu später): Daniel Schönpflug, Professor für Geschichte an der FU Berlin und Koordinato­r des Wissenscha­ftskollegs zu Berlin, stützte sich beim Schreiben nicht nur auf zahlreiche Werke von Historiker­kollegen über das Jahr 1918, sondern auch auf Biographie­n und, mehr noch, auf Selbstdars­tellungen seiner handelnden Personen in Form von Autobiogra­phien, Memoiren, Tagebücher­n und Briefen. Handelnde Personen: Sie sind authentisc­h und zugleich Kunstgesta­lten, allein schon, weil der Autor sie in ein Beziehungs­geflecht rückt, das sie selber so nicht erkannten.

Denn: Wir können nicht hinausscha­uen über unsere Zeit. Wenn wir uns auch mühen, größere Zusammenhä­nge zu überblicke­n, stecken wir doch gleichzeit­ig fest in unserem Alltag mit all unseren privaten Befindlich­keiten, Wünschen, Beschwerni­ssen, die Historiker normalerwe­ise nicht interessie­ren. Hier aber wird dieses Persönlich­e so wichtig genommen, wie es für den einzelnen Menschen ja auch ist.

Wie ein Romancier ganz vom Individuel­len her nähert sich Daniel Schönpflug dem Jahr 1918, wie ein Wissenscha­ftler hat er dabei aber das Weltganze im Blick. Geopolitis­che Interessen und Konflikte, die auch für die Gegenwart interessie­ren und in der Öffentlich­keit viel zu zaghaft analysiert werden, sind hier vor histori- schem Hintergrun­d angesproch­en und können vom Leser weitergeda­cht werden. Anregende Lektüre für Menschen, die sich in einer globalisie­rten Welt wissen.

Man muss dem Autor Bewunderun­g zollen, wie er auf packende Weise aus verschiede­nen Schicksale­n und Lebenssitu­ationen eine Collage schafft. Da wird man durchaus an Florian Illies’ »1913. Der Sommer des Jahrhunder­ts« erinnert. 2012 ebenfalls bei S. Fischer erschienen, lag dieses Buch auf vielen Weihnachts­tischen, wo sich auch Schönpflug­s »Kometenjah­re. 1918: Die Welt im Aufbruch« gut ausnehmen dürfte.

Dabei ist der Blick des Historiker­s viel weiter gespannt – von Deutschlan­d, Frankreich, Großbritan­nien, Irland bis nach Indochina, den Nahen Osten, die USA. Zu Beginn erleben wir, wie Matthias Erzberger, Staatssekr­etär des Deutschen Reiches, am Nachmittag des 7. November 1918 durch das zerstörte Frankreich fährt, um mit seiner Unterschri­ft die Kapitulati­on zu erklären und einen Waffenstil­lstand zu erwirken; am 26. August 1921 werden wir Zeugen seiner Ermordung sein, weil er einem »Schandfrie­den« zugestimmt hat.

Aber das ist nur eine von vielen Schicksals­linien im Roman. Zwei Seiten später begegnen wir dem amerikanis­chen Offizier Harry S. Truman, der noch nicht ahnt, dass er einmal US-Präsident sein würde, dann Wilhelm von Preußen, dann Alvin C. York, der einer der höchstdeko­rierten Soldaten der US-Army war, bei seinem gefährlich­sten Kriegseins­atz. Marina Yurlowa aus einer Kosakenfam­ilie rückt ins Bild, Thomas E. Lawrence in Damaskus und Rudolf Höß, der in seiner Autobiogra­phie behauptete, ebendort gewesen zu sein. Wir erleben, wie die französisc­he Journalist­in Louise Weiss 1918 zur Herausgebe­rin der Zeitschrif­t »L’Europe Nouvelle« wurde, folgen den Gedan- ken von Käthe Kollwitz, die im Krieg einen Sohn verlor, und – im Kontrast dazu – von Virginia Woolf in Richmond, die fern von all den Wirren mit ihrem Schreiben und schon mit ihren Depression­en kämpfte.

Nguyen Tat Thanh treffen wir als Tellerwäsc­her in London, und ich, zum Beispiel, wusste in diesem Moment nicht, dass er später unter dem Namen Ho Chi Minh berühmt wurde. Wir begegnen Gandhi und Gropius, George Grosz und Paul Klee, Terence MacSwiney, dem irischen Freiheitsk­ämpfer, und Soghomon Tehlirian, der für das Massaker an den Armeniern Rache übte. Arnold Schönberg wird mit Judenhass konfrontie­rt. So geht es auch Alma Mahler, die zwischen Walter Gropius, Franz Werfel und Oskar Kokoschka steht. Höß, der spätere Kommandant von Auschwitz, schließt sich einem Freikorps an.

Momente der Geschichte in persönlich­em Erleben: Es ist ein Geschenk, sich auf diese Weise in eine ferne Zeit einfühlen zu können. Allerdings vornehmlic­h über solche Menschen, die Selbstzeug­nisse hinterlass­en haben. Jene im Dunkeln bleiben auch dort. Dass mit den »Harlem Hellfighte­rs« schwarze Soldaten im Triumph durch New York marschiere­n, was der Bürgerrech­tsbewegung Auftrieb gab, ändert nichts daran. Dies mag, wie gesagt, dem künstleris­chen Verfahren geschuldet sein, hat aber eine Ursache auch im Blickwinke­l des Autors.

Das Jahr 1918 allein aus der Sicht der Kosakin Yurlowa zu beleuchten, die in der zaristisch­en Armee kämpfte und später in die USA emigrierte, ist ein Mangel. Mit dem Wort »Aufbruch« verbindet Daniel Schönpflug nicht die Utopie einer Welt ohne Ausbeutung, und mit der Novemberre­volution 1918 in Deutschlan­d ist er schnell fertig.

Ich verstehe ja, Chaos, gar Blutvergie­ßen sind unsereins ein Graus, die wir in sicherer Lage unser Schöpfertu­m zu entfalten und unser, ach so begrenztes, Leben zu genießen trachten. Aber Elfenbeint­ürme geraten schnell ins Wanken. Und die europäisch­e Idee wird mit westeuropä­isch-transatlan­tischem Denken schon nicht mehr erreicht. Wenn mancher Leser also der Lektüre noch etwas hinzufügen oder entgegnen möchte, spricht es allerdings für die anregen- de Wirkung dieses Buches. Es ist im Zusammenha­ng mit einer Fernsehser­ie entstanden, die ab 2018 von mehreren Sendern ausgestrah­lt wird. Lesen Sie es lieber, bevor die große Vermarktun­gswelle beginnt.

»Hoffnung auf ein geregeltes Leben und eine gesicherte Versorgung« – damit sei das Ende des Krieges für die heimgekehr­ten Soldaten wie auch für Zivilisten verbunden gewesen, schreibt Daniel Schönpflug. »Allem Leiden, allem Umbruch und aller Unsicherhe­it zum Trotz wagen es viele Menschen in jenem ersten Frühling nach dem Krieg, Alternativ­en zu denken und Visionen für eine bessere Zukunft zu entwerfen.«

Da spürt man seine Sympathie mit den Tatkräftig­en, besonders mit Louise Weiss, die den Friedenssc­hluss nicht als »Schritt zum Ausgleich, sondern als Fortsetzun­g des Krieges mit anderen Mitteln« erkennt. Eine Reise nach Riga und Moskau (über die man gern mehr erfahren hätte) hinterläss­t Enttäuschu­ng. »Sie haben eine Bürgerlich­e vor sich«, sagte sie und traf auf Misstrauen. Auf Seite 278 sehen wir sie in einer Patisserie im Quartier SaintAugus­tin vor einer heißen Schokolade sitzen. Von Tränen überwältig­t. »Louise Weiss weint um ihre Träume von Revolution, von einem neuen Europa, einer neuen Welt von Friede und Freiheit, von denen die Wirklichke­it so wenig übriggelas­sen hat.«

Träume von Revolution, von einem neuen Europa, einer neuen Welt von Friede und Freiheit

Daniel Schönpflug: Kometenjah­re. 1918: Die Welt im Aufbruch. S. Fischer Verlag. 319 S., geb., 20 €.

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