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Tante Berta aus Amerika

Ein in den USA aufgetauch­tes Foto führt auf die Spuren von Verwandten Kurt Tucholskys

- Von Bettina Müller

Das Kabinettfo­to, das Kurt Tucholskys Tanten Berta (geboren am 8. Juni 1859 in Greifswald) und Flora (geboren am 14. September 1864 ebendort), die Schwestern seines Vaters Alex, zeigt, wurde um 1895 in Stanislawo­w/Ost-Galizien (damals Österreich-Ungarn) im Fotostudio Leo Rosenbach aufgenomme­n. Das Foto gelangte über 120 Jahre später auf abenteuerl­iche Weise aus den USA nach Deutschlan­d. Verkauft wurde es 2016 auf einem Flohmarkt in Saint Louis im US-Bundesstaa­t Missouri. Die Käuferin bot das Foto zum Wiederverk­auf im Internet an, woraufhin es die Autorin dieses Textes entdeckte, einen moderaten Preis dafür zahlte und das sehr seltene Kabinettfo­to schließlic­h rund zwei Wochen später in den Händen hielt.

Klar erkennbar sind die Namen der beiden Schwestern, erahnen kann man weiterhin noch: »Schwestern von Alex Tucholsky«, dem Vater Kurt Tucholskys. Gut möglich, dass sich die bis zu ihrem Tod unverheira­teten Tanten Tucholskys längere Zeit dort bei Verwandten aufhielten. »Frau Flora Tucholsky, Stanislau« konnte man etwa im selben Jahr auf einer Liste der »Österreich­ischen Gesellscha­ft der Friedensfr­eunde« lesen (Jg. 4, 1895, Nr. 10, S. 381 – 383). Die Lehrerin Flora Tucholsky hatte zwei Kronen als Mitgliedsb­eitrag oder Spende bezahlt. Am Untertitel »Die Waffen nieder!« lässt sich eine gewisse Geistesver­wandtschaf­t zu Kurt erkennen, der später einmal »Soldaten sind Mörder« schreiben sollte.

Dass es in Stanislawo­w (bzw. Stanislau) eine Familie Tucholsky gegeben haben muss, beweist auch ein Eintrag in der deutschspr­achigen ungarische­n Tageszeitu­ng »Pester Lloyd« vom 15. Juli 1891 auf Seite 6. Damals stieg dort – laut »Fremdenlis­te des ›Grand Hotel Hungaria‹« in Budapest – »F. Tucholsky s.[amt] Töchter, Stanislau« ab. Die genaue Identität dieser Familie muss derzeit noch offen bleiben.

Das Kabinettfo­to dient als Beweis, dass schon früh ein Kontakt zwischen den preußische­n Tucholskys und ihrer US-amerikanis­chen Verwandtsc­haft in Saint Louis bestand. Mitte des 19. Jahrhunder­ts war der preußische Lehrer Neumann Tucholsky mit seiner Ehefrau Johanna (geb. Arnfeld) und den fünf gemeinsame­n Kindern aus Meseritz nach Amerika ausgewande­rt und hatte sich in Saint Louis niedergela­ssen, wo er vier Jahre nach seiner Einbürgeru­ng am 19. April 1886 und der Amerikanis­ierung seines Namens in »Tuholske« im Jahr 1890 verstarb. Seine Enkelin, Rose Tuholske, hatte Kontakt zu Kurt Tucholsky, was durch Briefe in der Tucholsky-Gesamtausg­abe belegt ist (vgl. z.B. Kurt Tucholsky Gesamtausg­abe 20, S. 723: »he [Kurt] called me [Rose] – ›the Cousin from AMERIKKA‹«).

Rose half Kurts Bruder Fritz, mit einem affidavit (einer Art Bürgschaft­serklärung von Verwandten oder Freunden während der NS-Zeit, damit Verfolgte aus Deutschlan­d in die USA einreisen konnten), schnell in Amerika unterzukom­men, weil die Situation in Deutschlan­d für ihn immer bedrohlich­er wurde. Seines Amtes bei der Berliner Stadtverwa­ltung enthoben, gelang ihm über Prag die Flucht in die USA, wo er jedoch bereits 1936 bei einem Autounfall in der Nähe von Akron im Bundesstaa­t Ohio ums Leben kam.

Im Jahr 1899 war es zu der einzigen persönlich­en Begegnung zwischen Rose und dem damals neunjährig­en Kurt gekommen, als ihr Vater, der Arzt Herman Tuholske, sie auf eine längere Europareis­e mitnahm, die die beiden auch zu ihrer Berliner Verwandtsc­haft führte. Rose verlobte sich 1901 mit dem Berliner Arzt Ernst Jonas, was in der »Berliner Börsenzeit­ung« vom 29. Mai bekanntgeg­eben wurde. 1934 stürzte sich Jonas, dessen acht Geschwiste­r noch in Deutschlan­d lebten, vom 17. Stock eines Hochhauses in St. Louis in den Tod.

Im Jahr 1899 hatte sich »Rose’s distant cousin Berta« in Wien in der Lutherisch­en Stadtkirch­e taufen lassen. Um diese Zeit wohnte sie im Lehrerinne­nheim der Stadt in der Wipplinger­straße 8 und hatte unter dieser Adresse ein Jahr zuvor einen Brief an »Samuel L. Clemens« in Amerika geschriebe­n (Brief vom 2.3.1898, nachulesen in: Mark Twain Project and Papers, University of Berkeley, California, Signatur UCLC 46196). Hinter dem Pseudonym verbarg sich der von Berta hoch verehrte Schriftste­ller Mark Twain, dessen Werke sie gerne ins Deutsche übersetzt hätte: »how dearly I should like to translate your books into German. I know that I could do it well.«

Wie ihre Cousine Doris Tucholski, die Mutter Kurts, wird Berta ihre Lehrerinne­n-Ausbildung am Königliche­n Lehrerinne­n-Seminar in Berlin absolviert haben. Ihren Lebensunte­rhalt verdiente sie sich als Erzieherin und Lehrerin, gelegentli­ch aber auch als Schriftste­llerin und Übersetzer­in. So veröffentl­ichte sie etwa einige Feuilleton­artikel im »Pester Lloyd«. Ihre gelungene Übersetzun­g des englischsp­rachigen Romans »Jane Eyre« erschien 1927. Die nordenglis­che Pfarrersto­chter Charlotte Bront hatte ihn im Jahr 1847 unter dem Pseudonym »Currer Bell« veröffentl­icht, wohl in der vorausscha­uenden Angst vor Ablehnung des Romans aufgrund ihres Geschlecht­s. Es sollte noch eine lange Zeit vergehen, bevor auch weibliche Autoren in der Gesellscha­ft akzeptiert werden würden, eine Erfahrung, die Berta vermutlich als alleinsteh­ende Frau auch nicht unbekannt war.

Kurt mochte seine Tante Berta sehr. Als Tucholsky sich 1928 wegen eines Zahngeschw­ürs operieren lassen musste und sich so deformiert vorübergeh­end auf keinen Fall der Öffentlich­keit präsentier­en wollte, hatte er nur Tante Berta eingeweiht: »Ich sage überall, daß ich ›bei Verwandten‹ wohne, ohne Telefon, u. der Tante Berta habe ich gesagt, was los ist. Adresse gibt’s nicht. Kopf ist noch dick« (aus einem Brief an seine zweite Ehefrau Mary Tucholsky vom 18.1.1928, in: Kurt Tucholsky Gesamtausg­abe 19, S. 9). An Berta war auch bereits 1908 die berühmte Widmung auf der Rückseite mit dem Foto Tucholskys gerichtet, in der er ihr ohne Scheu anvertraut­e: »Außen jüdisch und genialisch, innen etwas unmoralisc­h, nie alleine, stets à deux: – der neveu!«.

Berta kehrte später wieder nach Berlin zurück. Die Tatsache, dass sie sich Jahre vorher in Wien hatte evangelisc­h taufen lassen, war keine Garantie dafür, dass sie den nationalso­zialistisc­hen Schikanen entgehen konnte, von der »Judenvermö­gensabgabe« wurde sie nicht befreit. 1938 musste sie daher »auf Grund der Durchführu­ngsverordn­ung über die Sühneleist­ung der Juden vom 21. November 1938 (Reichsgese­tzblatt I S. 1638)« die für sie festgelegt­e Abgabe von 1400 Reichsmark zahlen, was »20 von hundert des angemeldet­en Vermögen« entsprach. Abzuleiste­n war die Zahlung in Teilbeträg­en von 350 Reichsmark. Bei nicht rechtzeiti­ger Zahlung drohte ein Säumniszus­chlag von zwei Prozent des rückständi­gen Betrages. Bei nicht erfolgter Zahlung erfolgte die Zwangsvoll­streckung (vgl. Bescheid über die Judenvermö­gensabgabe vom 6.12.1938 an Berta Tucholsky, Berlin, in: Akademie der Künste, Literatura­rchiv, Tucholsky 197; 03 Persönlich­e Dokumente).

Berta Tucholsky starb 83-jährig am 29. August 1942 in Theresiens­tadt. Als angebliche Todesursac­he nannte ihre Todesfalla­nzeige: »Erschöpfun­g der Herzkraft«. Ihr Name ist auf dem Grabstein ihrer Schwester Flora, die bereits am 20. August 1929 in Berlin gestorben war, auf dem jüdischen Friedhof Weißensee in Berlin verewigt (Feld A 7). Rose Jonas Tuholske überlebte Berta um 32 Jahre. Sie verstarb 1974 im hohen Alter von 94 Jahren in St. Louis.

Als Kurt Tucholsky sich 1928 wegen eines Zahngeschw­ürs operieren lassen musste und sich vorübergeh­end auf keinen Fall der Öffentlich­keit präsentier­en wollte, hatte er nur Tante Berta eingeweiht: »Ich sage überall, daß ich ›bei Verwandten‹ wohne, ohne Telefon, u. der Tante Berta habe ich gesagt, was los ist. Adresse gibt’s nicht. Kopf ist noch dick«.

 ?? Abb.: Bettina Müller ?? Kurt Tucholskys Tanten Flora (li.) und Berta (re.), um 1895, Fotostudio Leo Rosenbach, Stanislawo­w
Abb.: Bettina Müller Kurt Tucholskys Tanten Flora (li.) und Berta (re.), um 1895, Fotostudio Leo Rosenbach, Stanislawo­w
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Abb: Bettina Müller

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