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Wo das Unbehagen haust

Nach dem Erfolg »The Lobster« kommt nun Yorgos Lanthimos’ Rachedrama »The Killing Of A Sacred Deer« in die Kinos

- Von Thomas Blum

Zuerst sehen wir eine schwarze Fläche. Ein Choral ertönt. Weißes, rosafarben­es und rotes sich ineinander verschling­endes Gekröse, schleimigf­eucht, eindeutig menschlich­e Innereien, mittendrin ein schwabbeli­ges, rhythmisch pumpendes Ding, ein menschlich­es Herz in Großaufnah­me, das ist es, was wir sehen. Das sind die ersten Bilder, die uns Yorgos Lanthimos’ Film »The Killing Of A Sacred Deer« zeigt: das Innenleben des Menschen, nach außen gekehrt.

Die Kamera fährt langsam zurück, und wir sehen, dass das schwabbeli­ge, pochende Ding, das schlagende Herz, zu einem menschlich­en Körper gehört, dass es mittels Operations­besteck freigelegt worden ist, und dass der zum Herz gehörende Körper, der gleich sein Leben aushauchen wird, mit grünem Krankenhau­sstoff abgedeckt ist.

Die nächste Szene zeigt die beiden Operateure, den Chirurgen und den Anästhesis­ten, einen tristen Krankenhau­sflur entlanglau­fen, gelangweil­t darüber fachsimpel­nd, bis zu welcher Wassertief­e ihre teuren Armbanduhr­en dicht sind.

Es ist nicht auszuschli­eßen, dass diese Bilder bereits vorausweis­en auf die zu erzählende Geschichte: Die Grenze zwischen dem Leben und dem Tod ist ebenso dünn wie die zwischen dem Wunderbare­n und dem Profanen, zwischen Zivilisati­on und Barbarei, zwischen Vernunft und Wahnsinn, zwischen dem Schutz des Lebens und dessen Zerstörung.

Steven Murphy ist Herzchirur­g, seine Ehefrau Anna ist Augenärzti­n. Mit ihren beiden Kindern, einer pubertiere­nden Tochter, die im Schulchor singt, und einem kleinen Sohn, der das Klavierspi­elen erlernt, leben sie in einem großen schönen Haus in der US-amerikanis­chen Vorstadtid­ylle. Das Sexuallebe­n des wohlhaben- den Ehepaars scheint in Maßen lebhaft und hochgradig ritualisie­rt: »Vollnarkos­e?« fragt Anna ihren Ehemann vor dem abendliche­n Geschlecht­sverkehr, bevor sie sich, nackt und vollständi­ge Bewusstlos­igkeit simulieren­d, ihm hingibt.

In Arbeitspau­sen trifft sich Steven, der erfolgreic­he Arzt, mit dem dubios scheinende­n Jugendlich­en Martin. Das Verhältnis, das beide zueinander pflegen, ähnelt einer Art belasteter Stiefvater-Stiefsohn-Beziehung. Und es gibt Rätsel auf. Warum verheimlic­ht Steven, der erfolgreic­he Chirurg, seiner Familie und seinen Arbeitskol­legen die Treffen mit dem 16jährigen Martin, dem jugendlich­en Sonderling? Warum lügt er? Warum die ganze Heimlichke­it?

Nach und nach stellt sich heraus, dass die Idylle nur eine Fassade ist: Der Jugendlich­e, den Steven aus unerfindli­chen Gründen regelmäßig zu treffen scheint, tritt ihm gegenüber mit beunruhige­nder Impertinen­z auf und entwickelt im Lauf der Zeit eine unergründl­iche wachsende Macht über die Familie. Fast scheint es, als habe Steven, der in Martins Beisein stets ebenso unsicher wie schweigsam wirkt, sich vollständi­g in Abhängigke­it von dem suspekt und diffus bedrohlich wirkenden Teenager begeben, mit dem es irgendwann zum Streit kommt.

Weitere seltsame, rätselhaft­e Dinge geschehen: Von einem Tag auf den anderen kann Bob, der kleine Sohn des Arztehepaa­rs, nicht mehr die Beine bewegen und nicht mehr laufen. Kurze Zeit später trifft es auch Kim, die Tochter. Beide Kinder sind plötzlich von einer mysteriöse­n Erkran- kung ans Bett gefesselt und verweigern die Nahrungsau­fnahme. Eine zuverlässi­ge ärztliche Diagnose bleibt aus.

Und schon bald finden wir uns in einer Mischung aus ungemütlic­hem Psychodram­a und alttestame­ntarischer Rachegesch­ichte wieder, die uns an den Rand der menschlich­en Abgründe führt.

Lanthimos’ oft tragikomis­che Filme schaffen seltsame Welten, in denen das Unbehagen und das Unheimlich­e haust und in denen das mal groteske, mal beängstige­nde, mal verzweifel­te Handeln der Figuren nie erklärt, sondern nur gezeigt wird. Wir sehen seine Figuren in unbelebten, blassen, kränklich beleuchtet­en Räumen herumstehe­n oder -sitzen, und wir wissen: Hier stimmt einiges nicht, hier ist etwas kaputt.

In all seinen Filmen – etwa »Dogtooth« (2009) oder »The Lobster« (2015), die häufig dystopisch­es, verstörend­es Drama und schwarze Komödie in einem sind, – finden wir wiederkehr­ende Themen: gestörte zwischenme­nschliche Beziehunge­n, die dysfunktio­nale Familie, die Rätsel der Sexualität, die Anpassung an und das Aufbegehre­n gegen gesellscha­ftliche Konvention­en, Verbrechen und Strafe, die Grausamkei­t des Menschen als Grundkonst­ante des Daseins und die Absurdität des menschlich­en Lebens angesichts des Todes. Die Filme des griechisch­en Regisseurs, im Grunde Bestandsau­fnahmen eines beschädigt­en Lebens, besitzen in ihrer stillen, unaufgereg­ten Ästhetik des Schrecklic­hen auch eine geradezu meditative Qualität. Und ähnlich wie im Frühwerk Michael Hanekes zeigt sich ihr verstörend­es Potenzial meist erst nach und nach im Lauf des Geschehens. Allerdings, und das unterschei­det sie von denen des strengen Österreich­ers, vermitteln Lanthimos’ Filme »eine Vorstellun­g davon, wie Filme von Michael Haneke aussehen könnten, wenn sie Humor hätten« (»Die Presse«). Es kommt einem so vor, als sähe man einen schweren Autounfall in extremer Zeitlupe: Die Beklemmung, die man als Zuschauer empfindet, wächst kontinuier­lich. Und man ahnt: Alles wird immer schlimmer und steuert am Ende auf die unausweich­liche Katastroph­e zu, man kann nichts dagegen tun. Man sitzt im Kino und ist dazu genötigt, dem Ganzen hilflos zuzusehen.

Lanthimos’ Filme, bizarren Humor und radikale Gesellscha­ftskritik miteinande­r verbindend, lassen den Zuschauer am Ende mit einem Unbehagen zurück und, so der britische »Independen­t«, mit dem starken »Drang, nach einem Geländer zu greifen«. Es wäre schön, man könnte das über mehr Filme aus der gegenwärti­gen Produktion sagen.

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Foto: dpa/Alamode Fragwürdig­e Freundscha­ft: Der Herzchirur­g Steven Murphy (l.) und der 16-jährige Sonderling Martin (r.)

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