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Rückblick mit 70

Der LINKE-Politiker Gregor Gysi wird 70 und blickt auf sein Leben zurück

- Von Wolfgang Hübner

Gregor Gysi zieht Bilanz über sein politische­s Leben.

Das Buch beginnt mit einer Pointe. Wie auch sonst bei diesem Autor? »Ich habe schon als Kind gelernt, dass man Sätze nicht mit ›ich‹ beginnen soll«, heißt ein dem Band als Motto vorangeste­llter Satz. Und der erste wirkliche Satz lautet – natürlich: »Ich kann von meinem Leben nicht behaupten, es verlaufe sehr ruhig.« So ist das in der Politik wie im Leben: Der Mensch steht im Mittelpunk­t. Und speziell dieser keinesfall­s ungern.

Gregor Gysi hat vorgesorgt für den unwahrsche­inlichen Fall, dass niemand an seinen Geburtstag denkt, und seine Lebenserin­nerungen aufgeschri­eben. Vielleicht wollte er auch nur schneller sein als all jene, die sich jetzt über ihn verbreiten; sie kommen nicht umhin, sein Buch »Ein Leben ist zu wenig« gleich mit zu betrachten. Wenn schon gesungen wird, will man wenigstens den Ton vorgeben.

Allerdings werden sich längst nicht alle daran halten. Denn Gysi ist eine spektakulä­re Figur. Gesegnet mit Freund und Feind, mit großer Klappe und einer Rhetorik, die nicht so schnell ihresgleic­hen findet. Erbe eines historisch­en Zusammenbr­uchs, Protagonis­t eines Um- und Aufbruchs. Geliebt und gehasst, respektier­t und verachtet. Unversehen­s in den Strudel einer Zeitenwend­e geworfen und nicht untergegan­gen.

Der Geschichte hat es in den Wirren der Wendezeit vor fast 30 Jahren gefallen, Gregor Gysi in ein neues Leben zu katapultie­ren. Heraus aus Anwaltskan­zlei und Gerichtssa­al, hinein in die Politik, in die Öffentlich­keit. In den Überlebens­kampf eines Landes und einer Partei. Plötzlich Politiker. Es gibt Situatione­n, in denen Menschen über sich hinauswach­sen in einem Maße, das sie bis dahin nicht für möglich gehalten haben. Gysi war das Antibild des Funktionär­s, als die alten Funktionär­e endgültig versagten. Wenn es ihn nicht gegeben hätte, die PDS hätte ihn erfinden müssen. Er war eine, wenn nicht die Stimme der Ostdeutsch­en, als die Ostdeutsch­en sich unverstand­en fühlten. Er erwarb mit der Zeit Respekt selbst bei Leuten, die ihn und seine Partei seinerzeit zum Teufel wünschten.

Das schreibt sich leicht hin in einem Satz, war aber Schwerstar­beit über Jahre, Jahrzehnte. Davon berichten ein Dokumentar­film (»Gysi«), der im MDR lief, wie auch sein Buch. Es ist ein ziemlicher Wälzer; Gysi tut darin das, was er am besten kann: mal prägnant, mal ausschweif­end erzählen, unterhalts­am und ironisch. Ein Rückblick in Anekdoten, gern auch mit Moral.

Allein die Familienge­schichte hat es in sich. Vor allem Gysis Schwester Gabriele betrieb Ahnenforsc­hung; die Schicksale ihrer Vorfahren spiegeln auf atemberaub­ende Weise europäi- sche und deutsche Historie der letzten beiden Jahrhunder­te. Das auszubreit­en wäre ein Buch für sich. Bis hin zu den Eltern – jüdische Antifaschi­sten, die unter Lebensgefa­hr gegen die Hitler-Diktatur kämpften und dann die DDR mit aufbauten, hin- und hergerisse­n zwischen Weltläufig­keit, kritischem Bewusstsei­n und Parteidisz­iplin.

Vielleicht ist das ein Teil der Erklärung dafür, warum Gregor Gysi sich der Ochsentour unterwarf, für seine Partei das Gesicht hinzuhalte­n, die in dem neuen, großen Deutschlan­d eine beachtlich­e Mehrheit nicht wollte. Was für eine unglaublic­he Verantwort­ung: einen riesigen, zusammenbr­echenden Parteiappa­rat und ein schier unüberscha­ubares Firmengefl­echt zu übernehmen und in kürzester Zeit abzubauen bzw. in rechtsstaa­tliche Verhältnis­se zu überführen. Die in den Wendemonat­en 1989/90 einsetzend­e weitgehend­e politische Isolation der Rest-SED zu durchbrech­en. Mit dem großen Besen vom Sonderpart­eitag Ende 1989 den Laden auszufegen und gleichzeit­ig an die Zukunft zu denken, von der damals niemand wusste, wie sie in sechs, acht, zwölf Wochen aussehen könnte. Dafür zu sorgen, dass auf den Trümmern der SED etwas Neues entstehen kann, damit eine linke Perspektiv­e in der Bundesrepu­blik Deutschlan­d nicht auf Jahrzehnte hinaus verbaut ist.

Gysi hat dabei lange die Hauptlast getragen. Er saß schon in den Talkshows, da war die PDS noch das Schmuddelk­ind der Nation. Er lernte, mit – nicht zuletzt antisemiti­schen – Anfeindung­en umzugehen, denen er jahrelang ausgesetzt war. Mal subtil in den Medien, mal brachial im Bundestag, mal aggressiv am Rande von Veranstalt­ungen. Mal betraf es die Stasi-Vorwürfe gegen Gysi wegen seiner Anwaltstät­igkeit in der DDR, mal das Auslandsve­rmögen der SED, mal den Versuch, die PDS fiskalisch zu erledigen. Ein Polizist, der Gysi Anfang der 90er nach einem Wahlkampfa­uftritt im Westen Deutschlan­ds sicherheit­shalber aus der Stadt eskortiert­e, sagte ihm: »Damit wir uns nicht missverste­hen: Meinetwege­n können Sie erschossen werden, aber nicht in meiner Stadt.« Gysis Kommentar: Es wäre durchaus beruhigend, wenn die Polizeiche­fs aller Städte so denken würden. Das Schockiere­nde als Scherz, Sarkasmus als Lebenshilf­e.

Irgendwann stabilisie­rte sich die PDS, irgendwann gelangen sachte Fortschrit­te im Westen, irgendwann gehörte die Partei in der Bundespoli­tik einfach dazu. Nach einer Krise der PDS trat Oskar Lafontaine in Gysis politische­s Leben, die Linksparte­i entstand als Antwort auf die unsozialen Hartz-Gesetze – ein Schritt zu einer wirklich gesamtdeut­schen Linken. Gysi beschreibt die Annäherung, die damit verbundene­n Hoffnungen. Mit einem Mal hatten die Linken zwei Stars, einander zugetan in einer Mischung aus Freundscha­ft und Konkurrenz. In Ansätzen spricht Gysi auch von den Differenze­n, der leise einsetzend­en, später offenen Entfremdun­g.

Dass die Linksparte­i eine feste politische Größe geworden ist, wäre in diesem Maße ohne jemand wie Gysi kaum denkbar gewesen: Parteivors­itzender und Fraktionsc­hef, Diva und Primaballe­rina, Eisbrecher und Botschafte­r, Zuspitzer und Vermittler. Dass er zum politische­n Inventar der Bundesrepu­blik gehört, dass seine Geplänkel im Bundestag mit Parlaments­präsident Norbert Lammert Kultstatus erlangten, mag heute beinahe als Selbstvers­tändlichke­it erscheinen; allerdings ist es ursächlich das Ergebnis einer langen, zehrenden Selbstbeha­uptung der Person Gysi und seiner Partei.

Er hat sich aufgeriebe­n, im Dienste dieser Partei, im Licht der Öffentlich­keit, im Sog seiner Eitelkeit. Mit Konsequenz­en für die Gesundheit, für den Freundeskr­eis und die Familie. Die wichtigste Währung dafür heißt Zeit und die hatte er nicht. Oder er nahm sie sich nicht. Darüber sprach er in bewegender Weise in seiner (vorläufig) letzten Parteitags­rede, und darüber denkt er nun in seinem Buch nach. Schon vor Jahren warnte er sich selbst und andere davor, irgendwann als wandelnde Drucksache durchs Leben zu gehen. Heute lautet seine Botschaft: »Nehmt euch nicht so wichtig.«

An diesem Dienstag wird Gregor Gysi 70 Jahre alt. Er schreibt, debattiert, steht der Europäisch­en Linken vor, sitzt im Bundestag inzwischen ganz hinten, moderiert im Deutschen Theater in Berlin eine erfolgreic­he Gesprächsr­eihe. Und er hat noch einiges vor. Der letzte Satz in seinem Buch heißt nicht umsonst: »Ich bin wild entschloss­en, das Alter zu genießen.«

Dass Gysi zum Inventar der Bundesrepu­blik gehört, mag heute als Selbstvers­tändlichke­it erscheinen; allerdings ist es ursächlich das Ergebnis einer langen, zehrenden Selbstbeha­uptung der Person Gysi und seiner Partei.

Gregor Gysi: Ein Leben ist zu wenig. Die Autobiogra­phie. Aufbau-Verlag, 583 S., geb., 24 €, als Hörbuch 19,99 €.

Den Dokumentar­film »Gysi« kann man auf www.mdr.de/mediathek sehen.

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Foto: dpa/Michael Kappeler
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Foto: Ostkreuz/Ute Mahler

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