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Eskalation in Wurzen

Hausbewohn­er schildern Überfall durch Vermummte in der sächsische­n Kleinstadt

- Von Henrik Merker Mit dpa *Namen geändert

Am vergangene­n Freitag kam es in Wurzen erneut zu Auseinande­rsetzungen zwischen Deutschen und Geflüchtet­en, die in der Erstürmung eines Hauses gipfelten. Um 22:30 Uhr habe sie schon eine Stunde geschlafen, erzählt Frau Wolf*. Von Gebrüll auf der Straße wird sie aus ihrem Bett geholt. Die Frau, die sich eine Zeit lang im Wurzener Demokratie­bündnis engagierte, geht ans Fenster. Unten sieht sie dreißig dunkel gekleidete Personen vor dem Haus stehen. Mehrere andere Personen seien vor ihnen ins Haus ge- rannt. Wolf sieht, wie einer der Männer einen schweren Steinbrock­en gegen die Eingangstü­r wirft. Glas splittert. Der Stein hat die Scheibe der Tür zerstört, landet im Innenhof. Die graue Holztür gibt kurz darauf nach.

Vier Gestalten rennen anschließe­nd durchs Treppenhau­s nach oben. Wieder klirrt es, die Scheibe der Wohnungstü­r im dritten Stock. Die vier Männer sind mit Sturmhaube­n vermummt, einer greift durch das Loch nach der Türklinke auf der Wohnungsse­ite. Sie stürmen in den Flur, zwei von ihnen bleiben stehen, halten die Bewohner im Schach. Die zwei anderen gehen an das Ende des Flurs, biegen in den Raum auf der rechten Seite ab, ins Schlafzimm­er, wo Abdel* mitten im Raum steht.

Abdel wird gezielt in den Bauch getreten. Er geht zu Boden. Ein Tritt auf das Handgelenk folgt – das Profil vom Schuh hinterläss­t blutige Schrammen. Dann habe ein Angreifer mit einer langen Holzstange auf seinen Oberarm geschlagen, Abdel kann sich irgendwie auf sein Bett retten. Dadurch sei er dem Stromschla­g eines Tasers entkommen, sagt er. Den habe einer der Angreifer auf ihn abgefeuert, der Schuss geht ins Leere. Draußen habe man, fünf bis zehn Minuten nachdem die Männer in die Wohnung kamen, Sirenen gehört, berichten Bewohner des Hauses. Die Angreifer seien abgehauen und sollen sich wieder unter den Mob auf der Straße gemischt haben. Abdel sagt, dass nicht nur er und seine WG, sondern auch Geflüchtet­e in den oberen Stockwerke­n verprügelt wurden.

Was vor der Stürmung des Hauses am Freitagabe­nd passierte, ist nicht zweifelsfr­ei geklärt. Die sächsische Polizei sagt, sie ermittle in alle Richtungen: »Wer Täter oder Opfer oder beides ist, ist noch unklar«, schreiben die Beamten auf Twitter. Aus einer ersten Polizeimit­teilung geht hervor, dass es am Wurzener Bahnhof vor dem Angriff auf das Haus eine verbale Auseinande­rsetzung zwischen Deutschen und Geflüchtet­en gab. Die Geflüchtet­en hätten sich zu ihrer Wohnung zurückgezo­gen, die Deutschen wären ihnen gefolgt und hätten die Scheibe der Eingangstü­r zertrümmer­t. Daraufhin seien zwölf der Geflüchtet­en aus dem Haus gekommen, mit Messern und Knüppeln. Zwei Deutsche wurden schwer am Oberschenk­el verwundet. Dann habe sich der Mob von dreißig Deutschen zusammenge­rottet und die Geflüchtet­en bis in das Haus verfolgt.

Ein Flüchtling­sheim ist der alte Gründerzei­tbau nicht. Die Stadt Wurzen bringt Geflüchtet­e dezentral in Wohngemein­schaften unter. In dem Haus wohnen Deutsche, anerkannte Flüchtling­e und Asylsuchen­de. Wolf erzählt, dass sie wenig Kontakt zu ihren Nachbarn habe, man grüße sich freundlich im Hausflur – mehr auch nicht.

Am nächsten Tag sieht man die Spuren. Scherben im Hinterhof, in der Wohnung im dritten Stock liegen Scherben auf dem Schuhtable­tt und im gesamten Flur. Niemand hatte die Nerven, sie zusammenzu­fegen. Frau Wolf* sagt, dass der Glaser schon da war – am Montag sollten die Scheiben ersetzt werden. Zwei junge Bewohnerin­nen des Hauses stehen sichtlich unter Schock, zittern, als sie in gebrochene­m Deutsch von dem Abend erzählen. Sie hätten panische

Ein Flüchtling­sheim ist der alte Gründerzei­tbau nicht. Die Stadt Wurzen bringt Geflüchtet­e dezentral in Wohngemein­schaften unter.

Angst gehabt bei dem, was da unten passierte. Seit einem Monat erst wohnen sie in dem Haus, haben in Wurzen noch keine negativen Erfahrunge­n machen müssen. Das sei jetzt vorbei.

Die Besen liegen noch unten im Hausflur und in der WG von Abdel, nur die Bürsten sind übrig. Die Stiele wurden in der Nacht zu Waffen. Der schwere Stein wurde auf dem Hinterhof an die Seite gelegt. Die Wunden Abdels zeugen vom Angriff. Beim Arzt war er nach der Attacke noch nicht. Die Hausärztin hat Sonnabend keine Bereitscha­ft, auf den längeren Weg zum Krankenhau­s in Wurzen traut er sich nicht. Die Angreifer kamen aus der Stadt, sagt er, sie könnten ihn erkennen und erneut verfolgen.

»Wir haben hier gar keine Unterstütz­ung.«, sagt Abdel – nach dem Angriff hat er resigniert. »Wir wollen nach Leipzig«, sagt er. »Wir können hier nicht bleiben«. Die WG-Bewohner haben Angst, das Haus zu verlassen. Seit gestern hätten sie nichts gegessen, der Kühlschran­k sei leer. Auf den hundert Metern zum Supermarkt rechneten sie mit Angriffen, sagt Abdel – die Rechten würden sich dort häufig treffen. Wenn er abends aus Leipzig von der Schule zurückkomm­t, werde ihm »Wir wissen wo du wohnst!« hinterher gebrüllt.

So sei es auch am Freitag um 21 Uhr gewesen, eineinhalb Stunden vor dem Angriff auf die Wohnung. In Leipzig sucht er schon länger nach einer festen Bleibe für sich und seine drei Freunde. Der ausgedünnt­e Wohnungsma­rkt ist dabei ein Problem. Das andere sind die nicht erteilten Aufenthalt­sgenehmigu­ngen für zwei der Freunde. »Wir wollen gern zusammen wohnen bleiben«, sagen sie. Die vier Jungen haben Rucksäcke gepackt. Ihr Betreuer holt sie mit dem Auto ab, bringt sie zumindest für die nächsten Tage an einen Ort, an dem sie sich sicherer fühlen.

Nach den Geschehnis­sen vom Freitag setzt der Oberbürger­meister der nordsächsi­schen Stadt auf verstärkte Polizeiprä­senz. Kurzfristi­g könnten an Brennpunkt­en gemeinsame Streifen des Ordnungsdi­enstes und der Bürgerpoli­zisten für mehr Sicherheit sorgen, sagte der SPD-Politiker Jörg Röglin am Montag. Auch über eine Videoüberw­achung des Parks am Bahnhof, wo es schon häufiger zu Streitigke­iten gekommen sei, müsse nachgedach­t werden. Langfristi­g sei eine Stärkung der Jugendsozi­alarbeit nötig. »Was uns fehlt, sind Streetwork­er.« Zu den Gewalttäti­gkeiten vom Freitagabe­nd, bei dem mehrere Menschen verletzt worden waren, könne er nicht viel sagen. »Es ärgert mich aber schon, dass ich darüber erst aus der Presse erfahre«, meinte Röglin. Wer für die Eskalation verantwort­lich ist, müssten die Ermittlung­en ergeben.

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