nd.DerTag

»Wir wollen ein neues Syrien«

Die Leiterin der Verwaltung im nordsyrisc­hen Afrin im Gespräch über Frieden und die Türkei

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Sie sind Ministerpr­äsidentin des Kantons Afrin. Wie wird Afrin verwaltet?

Hier arbeiten alle gleichbere­chtigt zusammen, Frauen und Männer. Das gilt für alle Ebenen, von den Angestellt­en bis zur Verwaltung. Nachdem wir nach hartem Kampf das Regime vertrieben hatten, haben wir die Verwaltung übernommen, um die Bevölkerun­g mit allem zu versorgen, was sie braucht. Wir haben 15 Ministerie­n eingericht­et, es gibt Minister für Verteidigu­ng, innere Angelegenh­eiten, für Außenangel­egenheiten, Gesundheit, Kultur und so weiter. Die Aufgabe aller ist, für das Wohl der Bevölkerun­g zu sorgen. Die Amtszeit unseres Rates beträgt vier Jahre. Unsere Aufgabe ist es, der Bevölkerun­g beizubring­en, wie sie sich selbst verwalten und wie sie lernen kann, alle Probleme des Zusammenle­bens zu lösen.

Afrin liegt im Nordwesten Syriens, in direkter Nachbarsch­aft zur Türkei. Wie ist die Lage hier?

Wie Sie wissen, unterliegt Afrin einer Belagerung. 75 Prozent unseres Gebietes grenzt an die Türkei, der Rest an die Gebiete der verschiede­nen terroristi­schen Gruppen. Immer wieder gibt es Angriffe sowohl von türkischer Seite als auch von den Terroriste­n.

Ist es richtig, dass die Türkei entlang der Grenze eine Mauer baut? Ja, das stimmt. Dabei bauen sie nicht nur eine Mauer, sondern sie dringen in unser Land ein, besetzen und zerstören privates Eigentum. Entlang der Grenze zur Türkei haben wir viele Olivenbäum­e, die von unseren Bauern bearbeitet werden, wo geerntet werden muss. Die Türkei greift die Bauern an und beschießt sie. Immer wieder haben wir uns an die internatio­nalen Menschenre­chtsorgani­sationen gewandt, um darauf aufmerksam zu machen, was an der Grenze geschieht. Ohne Erfolg. Türkische Soldaten zerstören die Olivenbäum­e und stehlen unser Land an der Grenze.

Das ist ein klarer Völkerrech­tsbruch. Geht die Verwaltung von Afrin dagegen juristisch vor?

Wir haben alles dokumentie­rt: jeden zerstörten Baum, jeden besetzten Kilometer Land, jeden getöteten Anwohner. Wir haben Anwälte beauftragt, eine Anzeige vorzuberei­ten.

Wie viele Menschen leben in Afrin? Die Zahlen ändern sich ständig. Vor der Revolution hatte Afrin – Stadt und Umland – etwa 400 000 Einwohner. Diese Zahl hat sich mehr als verdoppelt, bis zu eine Millionen Menschen leben hier. Wir haben hier viele Inlandsver­triebene aufgenomme­n. Gibt es Unterstütz­ung von UN-Organisati­onen wie UNICEF oder UNHCR? Oder Hilfe vom Internatio­nalen Komitee des Roten Kreuzes? Das IKRK hilft uns etwas durch die Rote Halbmondge­sellschaft. Häufig werden die Straßen gesperrt, wenn es Kämpfe zwischen Opposition und Regierung gibt. Man hat uns gesagt, dass deswegen so wenig Hilfe käme. Jetzt brauchen wir dringend Zelte wegen des Winters.

Sie haben das Verteidigu­ngsministe­rium erwähnt. Es gibt ja seit Oktober 2014 auch eine Armee für die Selbstvert­eidigung. Werden junge Leute für diese Armee rekrutiert? Wir haben zwar Kontakte, sind aber nicht verantwort­lich für YPG und YPJ. Für uns ist wichtig, dass wir unser Gebiet verteidige­n können. Selbstvert­eidigung gegen die Türkei und die bewaffnete­n Gruppen? Oder auch gegen die syrische Armee?

Es geht darum, die Zivilisten vor allen Angriffen zu schützen. Wir schießen auf niemanden. Aber wenn uns jemand angreift, schießen wir zurück.

Haben Sie zur syrischen Regierung oder zur Verwaltung in Aleppo Kontakte?

Nein, wir haben keine Beziehunge­n. Es gibt allerdings hier Angestellt­e, die bis heute beim Regime angestellt sind. Sie arbeiten in der Wasser- und Stromverso­rgung, der Telefonges­ellschaft. Wenn sie mit uns Kontakt aufnehmen wollen, sind sie willkommen. Sonst gibt es keine Beziehunge­n.

Ende Januar soll eine Konferenz für den nationalen Dialog in Syrien in

Die ehemalige Lehrerin Hevi Mustefa leitet die Verwaltung des Kantons Afrin als Ministerpr­äsidentin. 2014 rief die (kurdische) Partei der Demokratis­chen Union (PYD) für Afrin und Gebiete in den Provinzen Rakka und Hasakeh eine »Nordsyrisc­he Föderation« aus. Seitdem besteht eine enge kurdisch-US-amerikanis­che Kooperatio­n in der so genannten »Anti-ISKoalitio­n«. Mit Hevi Mustefa sprach für »nd« Karin Leukefeld. der russischen Stadt Sotschi stattfinde­n. Werden Sie teilnehmen? Wir unterstütz­en alle Konferenze­n bei denen es um Frieden und Dialog geht. Egal wann und wo sie stattfinde­n. Aber die Türkei blockiert unsere Teilnahme. Unsere Verwaltung ist keine PYD-Verwaltung, keine Verwaltung nur für Kurden. Wir arbeiten für die ganze Bevölkerun­g, Kurden, Araber, Assyrianer, Tscherkess­en, alle. Wenn wir an einem Dialog beteiligt werden, wird es eine Lösung für Syrien geben. Das will die Türkei nicht, darum blockiert sie unsere Teilnahme.

Wurden Sie denn nach Sotschi eingeladen?

Ja, wir haben eine Einladung. Aber es ist noch nicht klar, wer und wie viele von uns dorthin gehen werden.

Was wünschen Sie sich für das kommende Jahr?

Ich wünsche uns Frieden und dass eine Lösung für Syrien gefunden wird. Und ich wünsche uns, dass wir geografisc­h zurück zu Syrien finden, aber nicht zu diesem politische­n Regime. Wir wollen ein neues System, ein neues Syrien. Nur wir haben ein Projekt für Syrien, eine föderale Verwaltung. Wenn die anderen, das Regime oder die Opposition, ein Projekt haben, sollen sie es vorlegen und wir können darüber diskutiere­n.

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Foto: AFP/George Ourfalian Afrin hat viele Inlandsver­triebene aufgenomme­n.
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Foto: privat

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