Kein Konto, keine Entschädigung
Jamaika: Mehr als 150 Menschen warten auf Kompensation für eine Militäraktion
Acht Jahre nach der größten Militär- und Polizeioperation in der Geschichte Jamaikas warten mehr als 150 Bewohner in Tivoli Gardens auf staatliche Entschädigungen – nur weil sie kein Bankkonto haben. In Jamaikas Hauptstadt Kingston herrschte im Mai 2010 Ausnahmezustand: Tagelang lieferten sich Polizei- und Militäreinheiten der drittgrößten Karibikinsel Schusswechsel mit Gangstern, als sie versuchten, den Paten von Tivoli Gardens und Chef der Shower Posse-Bande, Christopher »Dudus« Coke, zu verhaften, um ihn danach in die USA wegen Drogen- und Waffenhandels auszuliefern.
Mehrere Polizeistationen wurden von bewaffneten Dudus-Männern gestürmt und in Brand gesetzt, ein Revier brannte vollständig aus. 73 Menschen starben, darunter drei Polizisten. Coke wurde dabei nicht gefunden, sondern erst vier Wochen später festgenommen. Inzwischen wurde ihm in den USA der Prozess gemacht.
Nach offiziellen Angaben wurden 418 Menschen als Opfer der Operation anerkannt. Sie sollten nach langem bürokratischen Ringen von staatlicher Seite eine Entschädigung von insgesamt 200 Millionen USDollar erhalten. Das bisher nur 261 Personen entschädigt werden konnten, wie Staatssekretärin im Justizministerium, Carol Palmer, der Tageszeitung »The Gleaner« mitteilte, könne sie sich nicht erklären. »Die Zentren sind an fünf Tagen in der Woche geöffnet«, sagte Palmer.
Für die schleppende Auszahlung gibt es allerdings eine einfache Erklärung. Nur wer eine Steuer-Registrierungsnummer (TRN) und ein Bankkonto besitzt, kann sich in dem Behördenbüro überhaupt registrie- ren lassen. Und das haben nicht alle Jamaikanerinnen und Jamaiker, vor allem nicht jene, die in den Vororten und Armenvierteln von Gelegenheitsarbeiten und den Auslandsüberweisungen ihrer Verwandten ihren Lebensunterhalt bestreiten müssen. Kontogebühren und Formulare sind finanzielle und bürokratische Hürden.
»Da können wir nichts machen. Für die zu leistenden Zahlungen brauchen wir die Formulare mit der richtigen TRN und ein Bankkonto, an das wir das Geld senden können«, erklärte Palmer. »Das Ministerium bezahlt nicht mit Schecks oder Bargeld. Wir zahlen es auf das Konto des Begünstigten.«
In Tivoli Gardens, direkt neben der Kingstoner Altstadt gelegen, macht sich Unmut unter den Betroffenen breit, denn die Zeit drängt. Wenn das Geld aus dem laufenden Haushaltjahr bis zum 31. März 2018 nicht ausgezahlt worden ist, gehen die verbliebenen Mittel zurück ans Finanzministerium. »Die Leute müssen die Bedingungen erfüllen«, findet Justizminister Delroy Chuck. Allerdings will der Minister sich bei den Banken dafür einsetzen, dass diese bei den betroffenen Entschädigungsbeziehern eine Ausnahme machen und keine Kontoeröffnungs- und -führungsgebühren verlangen.
Manche Bewohner von Tivoli Gardens denken angesichts solcher bürokratischer Hürden im Stillen noch immer mit Wehmut an den vor acht Jahren festgenommenen Paten des Stadtteils. Christopher »Dudus« Coke verteilte Geldgeschenke an Bedürftige, finanzierte Kindergärten und bewilligte Unistipendien. Der Wohltäter von Tivoli Gardens machte sein Geld als Chef der sogenannten Shower Posse mit dem groß angelegten Drogenschmuggel in die USA.
Die Shower Posse dominierte über Jahre den Drogenhandel in New York. Die Bande hatte sein Vater Lester Coke in den 1980er Jahren gegründet. Er wurde 1987 festgenommen und starb fünf Jahre später kurz vor seiner Auslieferung in die USA unter ungeklärten Umständen in eine Gefängniszelle in Kingston. Die engen Beziehungen zur Jamaica Labour Party (JLP) sind auf der Reggaeinsel ein offenes Geheimnis, Tivoli Gardens ist traditionell Parteihochburg und war Wahlbezirk des damals amtierenden Premierministers Bruce Golding, der in Folge der Operation zurücktreten musste. Der derzeitigen JLP-Regierung dient der ehemalige Regierungschef inzwischen als Berater für Fragen der Karibischen Gemeinschaft CARICOM.
Golding wird nachgesagt, dass er sich über Jahre hinweg der US-Auslieferungsforderung widersetzt habe. Erst als Washington Sanktionen gegen Golding und Regierungsmitglieder angedroht habe, habe der Premierminister die Auslieferung des Paten »Dudus« angeordnet.
Mit fatalen Folgen. Bandenmitglieder und Bewohner von Tivoli Gardens errichteten Barrikaden an den Viertelzugängen, Scharfschützen nahmen mit schweren Waffen die mit rund 1000 Beamten anrückenden Streitkräfte unter Beschuss. Erst nach tagelangen Kämpfen konnte der Stadtteil eingenommen werden. Der heute 49 Jahre alte »Dudus« sitzt in den USA »in der Obhut der Drogenbehörde DEA« eine Gefängnisstrafe bis 2030 ab, heißt es von Seiten der US-Justiz.
»Die Leute müssen die Bedingungen erfüllen.« Delroy Chuck, Justizminister Jamaikas