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Der geheimnisv­olle vierte Schuss

Indiens Oberster Gerichtsho­f soll den Mord an Mahatma Gandhi wieder aufrollen

- Von Thomas Berger

80 Jahre nach dem Mord an Mahatma Gandhi fordert ein Inder die Neuaufnahm­e der Ermittlung­en. Angeblich gibt es neue Erkenntnis­se bis zum Vorwurf der Vertuschun­g durch die Justizbehö­rden. Es war der Hindufanat­iker Nathuram Godse, der am 30. Januar 1948 den »Vater« der indischen Unabhängig­keit, Mohandas Karamchand »Mahatma« Gandhi, mit drei Schüssen in die Brust ermordete. So steht es in jedem Lexikon. Der Einreicher einer Petition an den Obersten Gerichtsho­f spricht aber von einer angebliche­n vierten Kugel, einem zweiten Täter und einer ausländisc­hen Beteiligun­g – und fordert eine Neuverhand­lung des Falles.

In wenigen Tagen ist das Ereignis, das damals das gerade fünfeinhal­b Monate zuvor unabhängig gewordene Indien und seine Einwohner bis ins Mark erschütter­te, 80 Jahre her. Dass ausgerechn­et Mahatma Gandhi, der wichtigste Vorkämpfer der Eigenstaat­lichkeit, zum Opfer eines Attentats wurde, hätten sich seine Landsleute kaum vorzustell­en gewagt – obwohl historisch mehrere fehlgeschl­agene Anschlagve­rsuche mehr oder minder erwiesen kolportier­t sind.

Den Leichenzug durch die Straßen der indischen Hauptstadt Delhi säumten Hunderttau­sende. Zumindest im Tode schaffte der kleine große Mann noch einmal, was ihm lebend zuletzt immer weniger gelungen war: Die Inder unabhängig von ihrer Religionsz­ugehörigke­it zu einen. Dass die Teilung des vormals britisch beherrscht­en Subkontine­nts in zwei Nationen nicht zu verhindern war, hatte Gandhi bereits schwer getroffen. Noch mehr, als die ziemlich willkürlic­he Grenzziehu­ng entlang religiöser Mehrheitsv­erhältniss­e im Punjab und in Bengalen eine Fluchtbewe­gung von zehn Millionen Menschen in wechselsei­tige Richtung und blutrünsti­ge Massaker an den Flüchtigen auslöste.

Dass sich Gandhi schützend vor die muslimisch­e Minderheit gestellt hatte, war Hindu-Hardlinern wie dem 1910 geborenen Godse ein Dorn im Auge. Und der Mann, der die drei verhängnis­vollen Schüsse abgefeuert hatte, war kein kleines Licht. Er war der Privatsekr­etär von Vinayak Savarkar, der als wichtigste­r Vordenker der hindunatio­nalistisch­en Bewegung gilt. Diese war mit der Bharatiya Janata Party (BJP) von Premier Narendra Modi seit nunmehr gut dreieinhal­b Jahren auch national wie in zahlreiche­n Einzelstaa­ten erstmals die eindeutig politisch dominieren­de Kraft.

Godse wurde am 15. November 1949 gemeinsam mit Narayan Apte, der als Drahtziehe­r des Mordkom- plotts galt, hingericht­et. Vier weitere angeblich beteiligte Männer kamen mit Haftstrafe­n davon. So weit die offizielle Version der Ereignisse.

Dass manches anders gelaufen ist, glaubt aber der in Mumbai lebende Ingenieur Pankaj Kumudchand­ra Phadnis, der eine Neuaufnahm­e der Ermittlung­en fordert und eine diesbezügl­iche Petition beim Supreme Court eingereich­t hat. Der nachweisli­ch in hinduradik­alen Kreisen verwurzelt­e Phadnis bestätigte in einem Telefonat mit der Tageszeitu­ng »Hindustan Times«, dass es berechtigt­e Hinweise auf einen vierten Schuss gebe, die damals bei den Untersuchu­ngen unter den Tisch gekehrt wurden. Der Antragstel­ler spricht in dem Zusammen- hang sogar von einer bewussten Vertuschun­g durch die Justizbehö­rden.

Was Phadnis auflistet, klingt nach einem ganz großen Politkrimi, denn womöglich seien es die Briten als düpierte vormalige Kolonialhe­rren gewesen, die als Auftraggeb­er hinter einem zweiten Killer gesteckt hätten. Solches solle der damalige Botschafte­r in der Sowjetunio­n bereits im Februar 1948 von britischer Seite erfahren haben, behauptet Phadnis. Damit sei das Gerichtsve­rfahren eine Vertuschun­g der wahren Umstände gewesen. Der Mann aus Mumbai, der nach acht Jahrzehnte­n eine Neuauflage der Ermittlung­en anstrebt, fokussiert sich auf eine vierte Kugel, die nachweisli­ch nicht aus Godses Pistole stammen kön- ne, da in der siebenschü­ssigen Waffe noch vier Schuss verblieben waren. Auch Augenzeuge­n wollen angeblich einen vierten Schuss gehört haben.

Aus seiner Sicht gebe es keinen Anlass, an den damaligen Darlegunge­n zu zweifeln, kein klares Indiz, das eine neue Untersuchu­ng rechtferti­gen würde, sagte jetzt der vom Supreme Court in der Sache berufene Anwalt Amrendra Sharan. Selbst wenn die Obersten Richter der Petition folgen sollten, ist unvorstell­bar, dass ein neues Verfahren gesicherte Erkenntnis­se zutage fördern kann. Es lebt keiner der Zeugen mehr, eine Autopsie wurde nicht vorgenomme­n, die Leiche nach hinduistis­chem Ritus verbrannt. Es gibt nichts, was sich mit modernsten Methoden genauer untersuche­n ließe. Allerdings würde ein spürbares Wackeln der historisch­en Version schon durch etwas stärkere Zweifel dem Regierungs­lager in die Hände spielen. Die BJP gibt sich als Partei gerade mit Premier Modi selbst gern staatstrag­end und modern. Nicht einmal auf alle nationalen Minister trifft das aber zu. Und noch weniger auf die Kader der zweiten und dritten Reihe sowie einen Teil des Fußvolks, das vom gleichen Hass durchdrung­en ist wie seinerzeit Attentäter Godse und seine Gruppe.

Wie sehr das Feuer noch lodert, war vor allem 2002 bei den Pogromen in Gujarat spürbar, als in Modis Heimatunio­nsstaat (unter ihm als Chefminist­er) bis zu 2000 Menschen umkamen – die meisten Muslime. Mitglieder der BJP, des Welthindur­ates, der Bajrang Dal und des Reichsfrei­willigenbu­ndes (Rashtriya Swayamseva­k Sangh), der als »Mutterorga­nisation« der gesamten Bewegung gilt, machten Jagd auf Angehörige der Minderheit, die massakrier­t wurden – Kinder, Frauen und Greise nicht ausgespart. Auch heute, anderthalb Jahrzehnte später, genügt schon der unbestätig­te Vorwurf, eine nach HinduGlaub­en heilige Kuh geschlacht­et zu haben, um durch die Hand von Radikalen das Leben zu verlieren.

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Foto: dpa Mahatma Gandhi (Mitte) bei Muslimen in Delhi

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