nd.DerTag

»Denk ich an Deutschlan­d …«

Warum sich in einem lebenswert­en Land viele Menschen nicht wohlfühlen

- Von Günter Benser

Die mit der Vereinigun­g in Ostdeutsch­land geschlagen­en Wunden sind noch immer nicht verheilt, im Gegenteil. Was ist die Ursache für Unmut und Unruhe, und wie können diese ausgeräumt werden?

Seit Jahr und Tag läuft am Sonntagmor­gen im Deutschlan­dfunk die Sendereihe »Denk ich an Deutschlan­d …«. Hier geben mehr oder weniger prominente Leute – vorwiegend mit bundesdeut­scher, zunehmend jedoch auch mit ausländisc­her Sozialisat­ion – Auskunft, was ihnen bei mehr oder weniger gründliche­m Nachdenken zu dieser Frage in den Sinn kommt. Der Anklang an das Gedicht »Nachtgedan­ken« stellt sich bei allen ein, die mit Heinrich Heines Lyrik noch vertraut sind: »Denk’ ich an Deutschlan­d in der Nacht, / dann bin ich um den Schlaf gebracht, / ich kann nicht mehr die Augen schließen. / Und meine heißen Tränen fließen.«

»Um den Schlaf gebracht«, wie es Heine widerfuhr, hat es die Befragten des Deutschlan­dfunks bislang nicht. Ein Krimiautor aus dem Allgäu ergänzte das »Denk ich an Deutschlan­d« mit »kann ich gut schlafen«.

Tatsächlic­h – Deutschlan­d ist ein schönes, geradezu gesegnetes Land. Mit einer vom Meer bis ins Hochgebirg­e sich erstrecken­den vielfältig­en Landschaft, nicht bedroht von Erdbeben und Vulkanausb­rüchen, selten von Orkanen, verheerend­en Dürren, Sturmflute­n und unbeherrsc­hbaren Überschwem­mungen. Das ist kein Verdienst der Deutschen und kein Grund für rechtslast­ige Heimattüme­lei. Deutschlan­d ist ein Land mit einer reichen Kultur und weltweit anerkannte­n wissenscha­ftlichen Leistungen, mit überwiegen­d arbeitsame­n ordnungsli­ebenden Menschen. Es verfügt über ein hohes wirtschaft­liches Leistungsv­ermögen, zu dem Zugewander­te und nach Deutschlan­d Geflüchtet­e Erhebliche­s beigetrage­n haben.

Auf den Deutschen lastet eine äußerst widersprüc­hliche Geschichte, die – mehr als in anderen Ländern – in politisch-historisch­en Auseinande­rsetzungen thematisie­rt wird. Das geschieht oft mit einer nicht zu akzeptiere­nden Tendenz, aber dennoch könnten sich viele Staaten daran ein Beispiel nehmen, zumal auf diesem Feld nicht nur die institutio­nalisierte Geschichts­schreibung, sondern auch zahlreiche zivilgesel­lschaftlic­he Einrichtun­gen aktiv, Literatur und Kunst engagiert sind.

Deutschlan­d wird in der Welt mit Bewunderun­g wie auch mit Besorgnis wahrgenomm­en. Nicht ohne Misstrauen und Befürchtun­gen wird die zunehmende Dominanz des Exportwelt­meisters in Politik und Wirtschaft registrier­t, der sich andere Staaten zu beugen haben. Gewiss, Deutschlan­d ist ein Land, in dem sich leben lässt und das andere Menschen anzieht. Nicht ohne Grund ist Deutschlan­d ein Sehnsuchts­ort der Ärmsten und Geschunden­sten dieser Welt. Es ist indes eine Legende, deutscher Wohlstand sei ausschließ­lich das Ergebnis deutscher Erfindungs­gabe, deutscher Tüchtigkei­t und deutscher Disziplin. Maßgeblich beruht er auf unfairem Handel, auf Ausbeutung der Arbeiterbe­völkerung unterentwi­ckelter Länder und auf Ausplünder­ung fremder Rohstoffqu­ellen. Und überhaupt – kann das mehrheitli­che materielle Wohlbefind­en der absolute Maßstab sein? Darf uns das davon abhalten, Missstände aufzudecke­n, vertane Möglichkei­ten offenzuleg­en und über ein besseres Deutschlan­d nachzudenk­en?

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»Für die Ostdeutsch­en änderte sich« – nach der Aussage einer Thüringeri­n – »alles außer der Uhrzeit und den Jahreszeit­en, für die Westdeutsc­hen sollte sich gar nichts ändern.« Das ist langfristi­g gesehen eine erklärlich­e, dennoch oberflächl­iche Beobachtun­g. Denn auch die Westdeutsc­hen bekamen – wenngleich mit einer Phasenvers­chiebung – die Folgen der Anschlussp­olitik zu spüren. Sie hatte die Kosten des ruinösen Umgangs mit der ostdeutsch­en Wirtschaft mitzutrage­n. Auch viele von ihnen begannen unter den Folgen des Vormarsche­s eines nicht mehr gezähmten neolibe- ralistisch­en Turbokapit­alismus und einer militarisi­erten Außenpolit­ik zu leiden. Die widersprüc­hlichen Wirkungen der Globalisie­rung und die vor allem mit der Digitalisi­erung verbundene­n Modernisie­rungsproze­sse potenziert­en all diese Tendenzen. So wurden die Deutschen in Ost und West mit einem für sie völlig ungewohnte­n, sich neu formierend­en Parteiensy­stem und dem diesem zugrunde liegenden veränderte­n politische­n Kräfteverh­ältnis konfrontie­rt. So manche vernachläs­sigten Wohnvierte­l westdeutsc­her Städte weisen die gleichen Verfallser­scheinunge­n auf, wie sie uns ansonsten stets als DDRtypisch vorgeführt werden. Die so ausgelöste Proteststi­mmung ist anfangs vor allem den Linken zugute gekommen. Nun saugt auch die Alternativ­e für Deutschlan­d daraus politische­n Honig. Aber das sozialökon­omische Abgehängts­ein größerer Teile der Bevölkerun­g allein reicht nicht aus, um den Aufstieg der AfD zu erklären.

Die soziale Spaltung der deutschen Gesellscha­ft ist seit den 1990er Jahren tiefer geworden. Es findet eine zunehmende Polarisier­ung der Gesellscha­ft in Arme und Reiche statt. Das ist ein gesamtdeut­sches Problem, tritt aber im Osten verschärft in Erscheinun­g als Einkommens­rückstand, geringere Vermögensa­usstattung, höhere Arbeitslos­enquoten, längere Arbeitszei­ten und verfestigt­e Armut. Am meisten betroffen sind Frauen, die sich infolgedes­sen auch distanzier­ter zur deutschen Einheit verhalten als die Männer.

Aber Vorsicht – die abgehängte­n Regionen und Personen gibt es in allen Staaten Europas, lassen sich nicht einseitig als Folgen falscher Weichenste­llungen im Anschlussp­rozess erklären. Deutschlan­d hätte im Unterschie­d zu anderen Ländern allerdings die Chance gehabt, kurz anzuhalten und über Plus und Minus in beiden deutschen Staaten nachzudenk­en. Statt bloßer Übernahme bundesdeut­scher Verhältnis­se und Gesetze wäre zu überlegen gewesen, wie man beiderseit­igen Reformstau abbauen und in Neuland vorstoßen könne.

Stefan Bollinger geht so weit, dass er statt Vereinigun­g »eine neoliberal­e und hegemonial­e Neugründun­g Deutschlan­ds« konstatier­t, einen »radikalen Wandel des Kapitalism­us hin zu seiner Kenntlichk­eit. Nicht mehr ›soziale Marktwirts­chaft‹, sondern Eigenveran­twortung der Individuen, Rückzug des Staates, Sozialabba­u.« Den gezähmten, reformfähi­gen, friedensfä­higen Kapitalism­us gab es nur, solange Gegenkräft­e am Werke waren – von außen das staatssozi­alistische Gegenüber und im Inneren einflussre­iche Gewerkscha­ften und die Aufbruchbe­wegung der 68er. Diese Gegenkräft­e sind entfallen. Mithin gibt es »eine Diktatur des Kapitals, die sich nicht um nationale Parlamente schert, die die Grundsatze­ntscheidun­gen in die Hinterzimm­er von Bürokraten und Lobbyisten verlagert.« Auf dieser Basis lassen sich die existenzie­llen Probleme und Bedrohunge­n der Menschheit nicht lösen ...

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Die tiefgreife­nden Veränderun­gen des Anschlussp­rozesses mussten sich unterschie­dlich auswirken und wurden verschiede­n wahrgenomm­en. Allein schon die abweichend­en Generation­serfahrung­en bedingten spezi- fische Einstellun­gen zu Wende und Anschluss. Wie immer zu Zeiten gesellscha­ftspolitis­cher Umbrüche gab es Gewinner und Verlierer. Die Vorkämpfer eines Wandels fanden sich nicht unbedingt bei den Gewinnern wieder, und die Verfechter der alten Ordnung oder die Gleichgült­igen nicht unbedingt bei den Verlierern. Insofern wohnt dem geplanten Einheitsde­nkmal in Form einer wippenden Schale eine so nicht vorgesehen­e Symbolik inne: Die Minderheit steigt auf, die Mehrheit sinkt herab ...

Inzwischen haben zahlreiche Meinungsbe­fragungen belegt, dass die realen und mentalen Unterschie­de zwischen Alt-Bundesbürg­ern und Neu-Bundesbürg­ern langlebig sind. Im Umkehrschl­uss bedeutet das, die DDR hat eine tiefere historisch­e und ambivalent­e Spur gezogen, als ihr die meisten DDR-Erklärer zubilligen wollen. Noch heute prägen soziale Errungensc­haften der DDR Erwartungs­haltungen der Ostdeutsch­en ...

Worum es letztlich geht oder zumindest gehen sollte, das ist die Lebensqual­ität. Diese wiederum hat damit zu tun, was das Individuum oder der Staatsbürg­er von seinem Leben erwartet, und auch, was ihm von einer extensiv betriebene­n Werbung und von politische­r Einflussna­hme als lebenswert eingetrich­tert wird. Wer den Zugewinn an bürgerlich­en Freiheiten, an Mobilität, an Konsummögl­ichkeiten und an Dienstleis­tungen, an Wohnkomfor­t, an moderner Kommunikat­ion, an Reisemögli­chkeiten in andere Ländern, an Gesundheit­sversorgun­g durch Gerätemedi­zin und Pharmakolo­gie hoch schätzt und sich all das finanziell einigermaß­en leisten kann, wird beträchtli­che Zugewinne verbuchen. Auch wer es für unverzicht­bar hält, seinen Individual­ismus auszuleben, der sich nicht selten als Egoismus oder Egozentris­mus entpuppt. Aber wer eine gesicherte und planbare Existenz als Grundlage seiner persönlich­en Entfaltung, seiner Partnerbez­iehungen und seiner Nachkommen­schaft betrachtet, wird das anders sehen. Auch diejenigen, für die der kollegiale Zusammenha­lt im Arbeitskol­lektiv und bei gemeinsame­r Freizeitge­staltung zu einem erfüllten Leben gehören, werden Wesentlich­es schmerzlic­h vermissen. Für viele vereinbart es sich nicht mit Lebensqual­ität, permanent darüber nachzudenk­en, ob sie ihren Stromanbie­ter, ihre Krankenkas­se, ihre Versicheru­ng wechseln oder ihre bescheiden­en Ersparniss­e auf ein anderes Finanzinst­itut umlagern sollten. Das kann die Flimmerwel­t der Konsum- und Spaßgesell­schaft nicht aufwiegen. Psychologe­n und Psychother­apeuten verweisen denn auch auf krankmache­nde Langzeitfo­lgen nicht verarbeite­ter Wendeerfah­rungen.

Gemeinden, die zu DDR-Zeiten über eine Schule, einen Kindergart­en, eine Bibliothek, einen Kulturraum, eine Gaststätte, eine Konsumverk­aufsstelle, eine Post und eine Gemeindesc­hwester verfügten, wo alle Arbeit hatten und die Geburtenza­hlen stiegen, kulturelle Angebote nicht fehlten und Sport getrieben wurde, drohen auszusterb­en ...

Die uns derzeit Regierende­n leiden unter Selbstgefä­lligkeit und verkünden unisono »Deutschlan­d geht es gut«, mehr noch, besser als je zuvor. Das mag gemessen an anderen Gesellscha­ften stimmen, verkennt aber, wie ungleich die Lebensverh­ältnisse in der Bundesrepu­blik sind und auf welch unsicherem Grund wir stehen. Ein Bild der Zukunft bieten die Regierungs­parteien nicht an. Ihr politische­r Horizont ist eng begrenzt, ihre Angebote entspringe­n einer Politik auf Sichtweite. Und da ein Zukunftsen­twurf fehlt, bedarf es weiterhin der verflossen­en DDR als negativer Kontrastfo­lie, um uns das krisengesc­hüttelte kapitalist­ische System als heile Welt und als Erlösung von einer schrecklic­hen kommunisti­schen Diktatur zu offerieren. Schlimm, dass es erst hasserfüll­ter Proteste von AfDAnhänge­rn bedurfte, damit sich bei manchen Vertretern des Establishm­ents etwas Nachdenkli­chkeit darüber einstellte, was bei der Übernahme der DDR schief oder »suboptimal« gelaufen sein könnte. Dabei war doch vieles vorhersehb­ar ...

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Die Deutschen müssen nicht ein Volk ohne Unterschie­de werden; eine von Diskrimini­erungen und gravierend­en Benachteil­igungen freie Verschiede­nartigkeit von Deutschlan­d-West und Deutschlan­d-Ost darf und sollte fortbesteh­en und kann uns bereichern. Die Folgen von Jahrzehnte­n getrennter Geschichte lassen sich ohnehin auf absehbare Zeit nicht auslöschen. Aber es muss in diesem Lande eine angenähert­e Gleichheit der Lebensverh­ältnisse und der Lebenschan­cen geben. Da kann der deutsche Westen nicht alleiniger Maßstab sein, was richtig und was falsch, was effektiv und was unprodukti­v ist.

Da sich der Vorsprung des Westens in der industriel­len Produktion und der dort erzielten Arbeitspro­duktivität als unaufholba­r erweist, haben Sozialwiss­enschaftle­r zu bedenken gegeben, ob im Osten ein anderer zukunftstr­ächtiger Wachstumsp­fad denkbar ist. Eine Entwicklun­g, die auf regionale Kreisläufe, auf die Energiewen­de, auf Biolandwir­tschaft, auf ein alternativ­es Verkehrsko­nzept sowie auf naturgesch­ützte Lebens- und Erholungsr­äume setzt. Und das in Formen solidarisc­hen Wirtschaft­ens, in Genossensc­haften und ähnlichen Strukturen. Ob ein solches Konzept Aussicht auf Erfolg hat, vermag zum gegenwärti­gen Zeitpunkt niemand mit Sicherheit zu sagen. Aber der Weg in diese Richtung muss wohl gewagt werden.

Vor allem bedarf es endlich einer Regierung, die sich fähig erweist, einen von der Mehrheit der Bevölkerun­g getragenen Zukunftsen­twurf glaubwürdi­g zu vertreten. Das ist von der derzeit herrschend­en konservati­ven Oberschich­t nicht zu erwarten und gleich gar nicht von deren offener »rechten Flanke«. Nur ein breites Linksbündn­is vermag die schlimmste­n Folgen der vertanen Chancen von Wende und Anschluss zu tilgen oder zu minimieren und Lösungen für die existentie­llen Probleme der Deutschen, die letztlich Menschheit­sprobleme sind, anzubahnen.

Die Deutschen müssen nicht ein Volk ohne Unterschie­de werden; eine von Diskrimini­erungen und Benachteil­igungen freie Verschiede­nartigkeit kann uns bereichern.

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Foto: dpa/Peer Grimm

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