Naziterror vor Gericht
Der Prozess um die rechtsextreme »Gruppe Freital« geht in entscheidende Phase
Berlin. Zwischen fünf und elf Jahre will die Generalbundesanwaltschaft die acht Angeklagten im Prozess um die rechtsextreme »Gruppe Freital« ins Gefängnis schicken. Seit Mittwoch sind nun die insgesamt 16 Verteidiger der Angeklagten mit ihren Plädoyers dran und fordern naturgemäß: geringere Strafen. Nach dem ersten Tag der Plädoyers ist die Stoßrichtung absehbar: Alles nicht so schlimm, nicht so gemeint, nicht absehbar. Mit einem Urteil wird voraussichtlich für März gerechnet.
Dass in dem Fall überhaupt so hohe Haftstrafen im Raum stehen, ist dabei eigentlich schon etwas Besonderes. Denn zuerst musste sich die Generalbundesanwaltschaft einschalten, bevor auch der Vorwurf der Bildung einer terroristischen Vereinigung auf den Tisch kam. Ohne dieses Eingreifen wäre es »glimpflicher für die Angeklagten, aber eben auch gehörig falsch gelaufen«, ist sich Kristin Pietrzyk sicher, die in dem aufwendigen Verfahren Opfer eines Anschlags auf ein Flüchtlingsheim vertritt. Eine von sechs Gewalttaten, die der Gruppe Freital zur Last gelegt werden. Ihre Ziele: Flüchtlinge, Politiker der Linkspartei, ein alternatives Wohnprojekt.
Von Beginn an hob die Zuständigkeit der Bundesanwaltschaft und dass schließlich doch eine terroristische Vereinigung angeklagt wurde, nicht nur das Sicherheitsniveau des Prozesses an – extra umgebauter und gesicherter Verhandlungssaal, mit einer Glasscheibe abgetrennter Zuschauerraum, Polizeipräsenz im Saal, in Handschellen vorgeführte Angeklagte ... Auch die Aufklärung des Falls, der Motive und der Umstände, in denen sich eine derartige rechtsextreme Gruppe bilden konnte, wurde so entscheidend vorangebracht, sind Opferanwälte überzeugt.
Der Terrorprozess gegen die »Gruppe Freital« steht vor dem Ende. Er hat offenbart, wie schnell ein Klima von Ausländerhass in schwerer Gewalt und Straftaten münde konnte. Es hätte auch flotter gehen können. Im Februar 2016 reichte die Generalstaatsanwaltschaft Dresden eine Anklage gegen sechs Rechtsextreme aus Freital am Amtsgericht Dresden ein. Die Hauptverhandlung wäre vor einem Jugendschöffengericht geführt worden und vermutlich nach zwei Tagen vorbei gewesen. Dann aber zog sich die Generalbundesanwaltschaft den Komplex auf den Tisch. Das, sagt Kristin Pietrzyk, »war ein guter Moment für meine Mandanten«.
Die Anwältin aus Jena steht an diesem Tag an einem Pult in einem sehr speziellen Gerichtssaal im Dresdner Norden und hält ihr Plädoyer in einem der spektakulärsten Gerichtsprozesse, die in Sachsen je stattgefunden haben. Acht Angeklagte müssen sich unter anderem wegen Bildung einer terroristischen Vereinigung verantworten. Wegen der hohen Sicherheitsvorkehrungen und des erwarteten Interesses verhandelt das Oberlandesgericht nicht in einem üblichen Gerichtssaal, sondern im Speisesaal einer neuen Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge. Er wurde mit enormem Aufwand umgebaut. Es gibt akribische Zugangskontrollen; Besucher müssen selbst ihre Schuhe ausziehen und prüfen lassen. Die Angeklagten werden von je zwei Wachtmeistern in Handfesseln vorgeführt; die 16 Beamten bleiben während der Verhandlung im Saal – neben 16 Verteidigern, drei Bundesanwälten, einem halben Dutzend Nebenklägern samt Anwälten, Dolmetschern und natürlich dem Gericht. Ähnliches Gedränge herrschte anfangs auch im Zuschauerraum, auf der anderen Seite einer übermannshohen Scheibe aus Sicherheitsglas.
Während Pietrzyk plädiert, verlieren sich indes nur neun Beobachter im Saal. Das Interesse ist erlahmt. Kein Wunder: Der im März 2017 begonnene Prozess hat bis zu diesem Moment nicht zwei, sondern 67 Tage gedauert – viel Zeit, in der 69 Zeugen, acht Nebenkläger und drei Sachverständige befragt, Gutachten vorgestellt, Videos besichtigt wurden.
Pietrzyk ist froh darüber. Wäre der Prozess abgelaufen wie zunächst geplant, wäre das zunächst angeklagte halbe Dutzend Nazis aus Freital wohl auch verurteilt worden – dafür, dass sie von Juni bis November 2015 zwei Flüchtlingswohnungen, ein Büro der LINKEN, das Auto eines Stadtrats der Partei und ein Wohnprojekt mit hoch explosiven Böllern angegriffen hatten. Dass es sich bei der Gruppe aber um eine feste Struktur handelte; um eine, wie die Anklage jetzt lautet, terroristische Vereinigung, hatte die Staatsanwaltschaft trotz vehementen Widerspruchs der Ermittler von der Polizei verneint. Haftstrafen von bis zu elf Jahren für die Rädelsführer und bis zu neuneinhalb Jahren für die anderen Beteiligten, wie sie der Bundesanwalt nun vorige Woche forderte, wären so nicht zustande gekommen. Es wäre, sagt Pietrzyk, »glimpflicher für die Angeklagten, aber eben auch gehörig falsch gelaufen«. So, wie es in Sachsen im Umgang mit rechtsextremer Gewalt leider allzu oft läuft.
Dieser Prozess, der nach zehn Monaten nun seinem Ende zugeht, dürfte – vorausgesetzt, das Gericht folgt in etwa den Anträgen der Anklage – den Opfern der Übergriffe mehr Genugtuung verschaffen. Menschen wie Pietrzyks Mandanten: Flüchtlinge aus Syrien, die im November 2015 in einer winzigen Wohnung in der Freitaler Bahnhofstraße lebten. Vier von ihnen waren zu Hause und saßen teils beim Kartenspiel, als an einem Sonntag kurz nach Mitternacht Böller vom Typ Supercobra 12 von außen an den Fenstern angebracht und gezündet wurden. Es handelt sich um Feuerwerkskörper, die wegen ihrer großen und kaum zu kontrollierenden Wirkung in der EU nicht zugelassen und in Polen und Tschechien nur illegal zu besorgen sind. Sie zerreißen Fensterrahmen und verwandeln Scheiben in Splitterbomben. An den Fenstern der Flüchtlingswohnung angebracht worden seien sie »ohne Zweifel in Tötungsab- sicht«, sagt Ols Weidmann, ein weiterer Anwalt der Bewohner. Dass keiner von diesen starb, ist purem Zufall zu verdanken: Einer hörte die zischende Lunte und konnte sich sowie seine Mitbewohner in Sicherheit bringen.
Der Angriff im November 2015 war der letzte in einer Reihe von sechs Anschlägen, die Ende Juli mit der Sprengung des Autos begonnen hatten, sich dann auch gegen Wohnungen, Büros und Häuser richteten – und bei denen, wie Pietrzyk betont, »die Gefahr für das Leben von Anwesenden systematisch gesteigert wurde«. Dazu wurden Sprengversuche durchgeführt, Lunten verlängert, Sprengladungen verstärkt, die Wirkung der Böller in geschlossenen Räumen studiert. Chatprotokolle belegen, dass man sich auch ausmalte, was passiert, wenn darin Menschen sind. Als schließlich die Behörden dem Treiben ein Ende setzten und die Beteiligten verhafteten, fanden sie bei einem von ihnen Metallrohre und Material, das für den Bau von Rohrbomben geeignet war. »Es hätte nicht dort aufgehört«, ist Alexander Hoffmann, ein weiterer Anwalt der Nebenklage, überzeugt: »Das wäre weitergegangen« – früher oder später mit tödlichen Folgen.
Vielleicht wäre zu dieser Überzeugung auch eine Jugendschöffenkammer gekommen. Der Prozess am OLG indes hat nach Überzeugung der Opferanwälte mehr erbracht. Er hat ausführlich beleuchtet, aus welchen Motiven, in welchem Umfeld und nicht zuletzt in welchem gesellschaftlichen Klima die acht Angeklagten agierten – und welche Furcht einflößende Dynamik ihr Handeln entwickelte. Beim Vorwurf der Bildung einer terroristischen Vereinigung denken viele an Gruppierungen wie den Nationalsozialistischen Untergrund (NSU). Beide Komplexe seien »nicht vergleichbar«, sagt Pietrzyk – allerdings aus einem verblüffenden Grund: wegen der hohen Geschwindigkeit, in der die Beteiligten von politischem Protest in immer brutalere Straftaten abglitten. Die Radikalisierung, sagt die Anwäl- tin, sei in einem »derart raschen Tempo« vorangeschritten, dass es »kaum fassbar« sei.
Ihre Ursprünge hatte die »Gruppe Freital« in Bewegungen wie »Freital wehrt sich«, die ab Frühjahr 2015 gegen die zunehmende Zuwanderung mobil machten – zunächst mit Kundgebungen, Demonstrationen und in sozialen Netzwerken. Im Mai 2015 gründeten einige der jetzt Angeklagten die Gruppe »Widerstand Freital«, deren Facebookseite aktuell 1539 zustimmende »Likes« aufweist – und nach wie vor ein Foto, auf dem Beteiligte mit Fackeln und Hakenkreuzfahnen auf dem Hausberg der Kleinstadt bei Dresden posieren. Der Widerstand gewinnt an Schärfe, als Planungen bekannt werden, Asylbewerber im örtlichen Hotel »Leonardo« unterzubringen. Weil Proteste wirkungslos blieben, entschlossen sich einige rechte Aktivisten zur Eskalation. Ein Auto von Flüchtlingsunterstützern wurde durch die Nacht gejagt, die Frontscheibe zertrümmert. Ab Juni habe sich die Gruppe, die sich oft an einer Tankstelle traf, zunehmend abgeschottet, sagt Pietrzyk. Besonnenere und vermeintliche Verräter stieß man ab; andere Gesinnungen nahm man nicht mehr zur Kenntnis. Absprachen habe man über ein verschlüsseltes Chatprogramm getroffen – und Straftaten bis hin zur Tötung politischer Gegner nicht mehr ausgeschlossen. Ein »klassischer Radikalisierungsprozess«, sagt die Anwältin – nur, dass er nicht Jahre dauerte, sondern in jenem Sommer 2015 quasi im Eilzugtempo erfolgte.
Ein Wunder ist das nicht; schließlich war der Nährboden bereitet. Das islamfeindliche Pegida-Bündnis war seit einem halben Jahr im nahe gelegenen Dresden aktiv; dessen montägliche »Spaziergänge« wurden zu einem Treffpunkt nicht nur von vermeintlich »besorgten Bürgern«, sondern auch von militanten Nazis, rechten Hooligans und Aktivisten aus der »Nein zum Heim!«-Szene, deren Ableger überall in Sachsen wie Pilze aus dem Boden sprossen. Bei Pegida habe sich »die hässliche Fratze des deutschen Nationalismus am aggressivsten« gezeigt, sagte Pietrzyk in ihrem Plädoyer. Aber es gab andere Orte, an denen Leute wie die Freitaler sich mit Gleichgesinnten treffen konnten: den K-Block im Dresdner Dynamo-Stadion, Kneipen wie die, in der zu eben jener Zeit die »Kameradschaft Dresden« (FKD) gegründet wurde – oder die Kreuzung vor dem »Praktiker«-Baumarkt in Heidenau, an der Ende August 2015 die Proteste gegen die geplante Unterbringung von Asylbewerbern in Straßenschlachten militanter Neonazis mit der Polizei mündeten. Die dortigen Ausschreitungen hätten – ebenso wie die Anschläge der »Gruppe Freital«, deren erste zu diesem Zeitpunkt bereits stattgefunden hatten – ein klares Ziel gehabt: Stimmung gegen Zuwanderer zu machen, die Bevölkerung aufzuwiegeln, Widerstand auszulösen. Die jetzt Angeklagten hätten »ein Signal gegen Flüchtlinge setzen« und erreichen wollen, dass jene, die der Zuwanderung nicht ablehnend gegenüber standen, »Angst haben mussten«, sagt Anwald Ols Weidmann. Es sollte, fügt Pietrzyk mit Bezug auf die ausländerfeindlichen Pogrome des Jahres 1991 hinzu, eine »Stimmung wie in Hoyerswerda oder RostockLichtenhagen geschaffen werden«.
Die Täter gingen dabei nicht zu Unrecht davon aus, dass ihr Umfeld ihr Handeln zu einem guten Teil stillschweigend billigte. In ihrem Plädoyer erinnert Pietrzyk an Aussagen von Nachbarn der angegriffenen Flüchtlingswohnungen, die sich im Zeugenstand weit ausgiebiger über deren Bewohner beklagten als über die Sprengstoffanschläge auf das auch von ihnen bewohnte Haus. Sie erinnert auch an die Aussage der Personalchefin des Busunternehmens, bei dem zwei der Angeklagten beschäftigt waren. Sie lehnte Wünsche nach kostenloser Mitfahrt für Mitglieder der rechten Bürgerwehr »FTL/360« in Bussen des Unternehmens zwar ab, hatte mit der Gesinnung ihrer Mitarbeiter ansonsten aber kein Problem: Was diese außerhalb ihrer Dienstzeit trieben, hieß es sinngemäß, sei ihre Sache. Widerspruch blieb weitgehend aus – auch in der Freitaler Kommunalpolitik, die sich in der Debatte um das »Leonardo« zu großen Teilen wegduckte und engagierte Politiker wie LINKE-Stadtrat Michael Richter selbst nach dem Sprengstoffanschlag auf sein Auto nicht demonstrativ unterstützte. Richter hat die Stadt Ende 2017 verlassen. Von »deutschen Zuständen« spricht Anwältin Pietrzyk: ein »selbstverständlicher Rassismus breiter Gesellschaftsschichten und eine lustvoll zur Schau gestellte Rebellion gegen alles Fortschrittliche«.
Der Prozess, in dem die Jenaer Juristin und ihre Kollegen plädiert haben, hat gezeigt, was aus diesen Zuständen erwachsen kann und welch im Wortsinne explosive Mischung sie ergeben. Er hat auch gezeigt, wie Frühwarnsysteme versagen: Der Verfassungsschutz, sagte sein Präsident im Zeugenstand, hatte die »Gruppe Freital« nicht auf dem Schirm. Deren Mitglieder müssen nun dennoch mit hohen Haftstrafen rechnen – auch wenn ihre Verteidiger an den nächsten voraussichtlich vier Verhandlungstagen versuchen sollten, die Taten höchsten als »Feierabend-Terrorismus« erscheinen zu lassen. Das aber ist Unsinn, sagt Kristin Pietrzyk in Richtung der Angeklagten: »Der Hass auf alles Fremde war bei Ihnen allgegenwärtig – 24 Stunden am Tag, sieben Tage pro Woche«.
Der Angriff im November 2015 war der letzte in einer Reihe von sechs Anschlägen, die Ende Juli mit der Sprengung des Autos begonnen hatten, sich dann auch gegen Wohnungen, Büros und Häuser richteten.