Kein Ende der Angst
Wie ein junger Mann, der als 13-Jähriger zusammengeschlagen wurde, versucht, sein Leben in den Griff zu bekommen
Ein Junge wird plötzlich Gewaltopfer. Jahrelang belastet ihn dies.
Wer Opfer einer Gewalttat wird, hat oftmals das ganze Leben mit dieser Erfahrung zu kämpfen. Und muss sich durch dichten Behördendschungel kämpfen. In diesem Winter sind es zehn Jahre. Kurz vor Weihnachten 2008 stand ein 48-jähriger Mann vor den Richtern des Berliner Amtsgerichtes Tiergarten, der – wie das Gericht bestätigte – »mit erheblicher Brutalität« auf einen Jungen eingeschlagen hatte. Matthias Müller* war dieser 13-Jährige. Damals, so erinnert sich der schlanke, fast schmächtige junge Mann bei einem Treffen in einem Berliner Café, sei er erleichtert gewesen. Denn das Gericht verurteilte den Mann: acht Monate Freiheitsstrafe ausgesetzt auf Bewährung und eine Geldstrafe von 1200 Euro – 50 Euro im Monat als Bewährungsauflage.
»Direkt nach dem Angriff war es schwierig, ich hatte Angst, wenn ich in der Nähe des Spielplatzes war, wo alles passiert war. Wir haben ja zunächst beide weiter in der Nachbarschaft gewohnt.« Gegen die Angst und für die Prozessvorbereitung hatten Matthias und seine Mutter sich Hilfe geholt bei der Opferschutzorganisation Weißer Ring. Dort wurden ihnen Anwälte und Therapeuten vermittelt. »Die haben uns gut unterstützt«, erinnert sich Melanie Müller* an die Anfangszeit nach dem Angriff. Die körperlichen Wunden waren verheilt, ein Therapeut kümmerte sich um die seelischen Narben. Bald schon sollte der Vorfall der Vergangenheit angehören, so hoffte es Matthias.
In der Rückblende beschreibt er, was passiert ist: Am 16. Mai 2008 ist Matthias wie so oft auf dem Spielplatz einer Falkenberger Siedlung am Berliner Stadtrand. Die Sonne scheint, es sind Pfingstferien, seine Freunde und er können schon am Vormittag auf dem von Bäumen gesäumten Platz spielen. Irgendwann gerät er in Streit mit einem anderen Jungen – warum, weiß er heute nicht mehr. Er wirft einen Stein nach ihm. »Das klingt jetzt blöd, aber so war es. Cool war das nicht.« Noch bevor er sich entschuldigen kann, ist der andere verschwunden. Der Jugendliche denkt sich nichts weiter dabei.
Kurze Zeit später stürmt ein Mann auf den Spielplatz, stark alkoholisiert, aber zielgerichtet. Der Vater des getroffenen Spielkameraden schlägt ohne Warnung auf Matthias ein, der fällt zu Boden, doch die Schläge gehen weiter – immer auf den Kopf. Er hat Todesangst; Panik, im Sand zu ersticken.
Genauso plötzlich wie der Überfall begonnen hat, endet er. Der Täter lässt den verletzten Jungen einfach liegen. Später wird ihm klar: Eine Nachbarin hatte das Geschehen beobachtet, sich lautstark eingemischt, einen Krankenwagen gerufen. Im Gerichtsverfahren war sie eine wichtige Zeugin, denn wegen der 3,14 Promille im Blut des Angreifers steht dessen Schuldfähigkeit in Frage. Sie sagte aus, der Täter sei gezielt auf den im Sandkasten spielenden Jungen zugegangen und habe diesem sofort mit Fäusten ins Gesicht geschlagen. Getorkelt sei er nicht. Das Gericht erkannte nur eine verminderte Schuld an. »Zum Glück hat der Täter seine Strafe bekommen«, sagt Melanie Müller heute. »Wiedergutmachen konnte er es damit aber nicht«, fügt Matthias leise hinzu.
Denn der Angriff hat sein Leben verändert – bis heute leidet er an den Folgen. Schien Matthias sich in den Wochen nach dem Angriff wieder gefangen zu haben, wühlte das Gerichtsverfahren den Albtraum wieder auf. Die Angst kam zurück, Schlafstörungen, Depressionen. »Alles ging den Bach runter«, erinnert sich seine Mutter. »Er hatte sein Selbstwertgefühl total verloren, es war kein normales Leben mehr möglich.« Im hippen Prenzlauer-BergAmbiente sitzt Matthias vor seiner Brause und nickt stumm.
Die Angst blieb, an manchen Tagen war es unmöglich, vor die Tür zu gehen – geschweige denn öffentliche Verkehrsmittel zu nutzen. Statt wie geplant nach der Realschule noch das Abitur zu versuchen, sollte Matthias eine Berufsausbildung beginnen. Als anerkannter Geschädigter nach dem Opferhilfegesetz brauchte er dabei Unterstützung. In der Reha-Abteilung des Arbeitsamtes schlug man eine Behindertenwerkstatt vor. Seine Mutter wehrte sich. »Wir haben gesagt, nee, er ist nicht so behindert, dass er in eine Behindertenwerkstatt gehen muss.«
Sie schauten sich auf eigene Faust verschiedene Berliner Berufsausbildungswerke an, in Spandau gefiel es ihnen. Er hätte einen Platz haben können, aber da gab es ein Problem. Wegen seiner Panikattacken war der tägliche Weg von rund zwei Stunden quer durch die Stadt unmöglich. Melanie Müller stellte einen Antrag auf Internatsunterbringung, der wurde abgelehnt. Doch sie gab nicht auf, sprach erneut beim Arbeitsamt vor, erklärte geduldig die Situation. Dort hieß es, der Junge könne anfangen, wenn das Jugendamt die Kosten übernähme. Doch die mussten selbst erst prüfen, schickten Matthias fünf Wochen in eine Klinik, in der festgestellt werden sollte, ob er wegen einer andauernden seelischen Behinderung förderfähig ist.
Opfer von Gewalttaten erhalten bei psychischen Störungen derzeit nur Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz, wenn sie nachweisen können, dass die psychische Belastung durch die Straftat verursacht worden ist. Das Gesundheitsamt bezweifelte, dass seine Depressionen mit dem damaligen Angriff zu tun hatten, schließlich war bei ihm als Kind bereits ADS, ein Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom, also Hyperaktivität, diagnostiziert worden. »Obwohl wir ja ganz gut selbst einschätzen konnten, dass sich das Leben erst nach diesen Vorfällen so rapide geändert hat«, sagt seine Mutter. Statt eines sehr lebhaften hatte sie plötzlich ein todtrauriges Kind zu Hause. Am Ende bekam Matthias einen Einzelfallhelfer, der ihn bei allen notwendigen Wegen begleitete.
2014 begann er mit einer Traumatherapie, startete ein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) in einem Pflegeheim. Ihm gefiel die Arbeit, kurze Strecken mit der Bahn schaffte er wieder alleine, alles schien auf einem guten Weg. Neue Zukunftsmöglichkeiten fächerten sich vor ihm auf: der Wunsch, eine Ausbildung zum Betreuungs-Assitenten zu machen.
Doch wieder kam es anders. »Missverständnis«, nennt Matthias eine Auseinandersetzung, die für ihn mit Nasenbeinbruch endete. Und den Kreislauf wieder startete, »gerade als man dachte, man ist wieder ok. Das war bitter«. Nach zehn Monaten musste er das FSJ abbrechen, wieder quälten ihn Panikattacken und Depressionen, Alkohol und Selbstverletzungen kamen hinzu.
Erneut versuchte er mit Unterstützung seiner Mutter, Hilfe zu finden. Beim Sozialpsychiatrischen Dienst war man der Idee, Matthias einen Einzelfallhelfer zur Seite zu stellen, aufgeschlossen. Doch sie brauchten eine Kostenübernahme. Weder das Sozialamt noch das Jugendamt sah sich zuständig, das Arbeitsamt verweigerte wegen mangelnder Arbeitserfahrung einen Weiterbildungsgutschein und lehnte einen Antrag auf Teilhabe an der Arbeit ab. Schließlich landeten Matthias Unterlagen gar in der Rentenabteilung.
Seine Mutter hatte jetzt endgültig die Schnauze voll. Sie wandte sich an ihre Chefin bei einem Wohlfahrtsverband. Ihr letzter Versuch: Gelder privat zu akquirieren. 3600 Euro für die Qualifizierungsmaßnahme mussten sie zusammenbekommen. Für sie viel Geld. Mit Hilfe von Stiftungen und Unterstützern hat es geklappt. 2016 machte Matthias seinen Abschluss mit einer Note von 1,8.
Noch hat er keinen festen Job, er hat sich bei vielen Pflegeheimen beworben, bisher ohne Erfolg. »Aber ich gebe jetzt nicht auf«, sagt er trotzig. »Das wäre ja auch zu schade nach den ganzen Kämpfen.« Betreuung macht ihm Spaß, »mir gefällt es, helfen zu können, ich sehe ja wie sich alte Menschen freuen, wenn sie junge Menschen sehen und mit ihnen sprechen können«.
Melanie Müller ist froh über den erfolgreichen Abschluss. Die Geschichte von Matthias ist auch die seiner Mutter. Jahrelang hat die Alleinerziehende ihre Urlaubstage darauf verwendet, ihren Sohn zu Ämtern oder Ärzten zu begleiten, hat auf vieles verzichtet und war an seiner Seite, wenn die dunklen Schatten ihn einholten. Jetzt ist Matthias 23 Jahre alt. Sie hat ihn rausgeworfen, Streit und Reibereien zerrten auch an ihren Nerven. Ab vorigen Herbst hätte sie zudem seine Krankenversicherung zahlen müssen. Damit wäre sie trotz Vollzeitjob von ergänzenden Leistungen beim Jobcenter abhängig. »Da musste mal ein Schlusspunkt her, ich wollte die Verantwortung auch mal abgeben.«
»Der Rauswurf war ganz gut für mich, so hart es klingt,« sagt Matthias, der zunächst einmal in einer Wohngemeinschaft untergekommen ist und lächelt seine Mutter von der Seite an. Er wünscht sich einen Job und eine eigene Wohnung mit seiner Freundin, am Wochenende zum Fußball und mal mit Freunden abhängen.
Doch der Weg in ein normales Leben bleibt schwierig. Besonders zu Jahresbeginn holen ihn die Schatten der Vergangenheit ein. So ist es auch in diesem Jahr. Den lang ersehnten Arbeitsvertrag musste Matthias schweren Herzens ablehnen, die Angstattacken im öffentlichen Raum sind zurück. Zwar ist er einige Schritte weiter und hat Methoden gelernt, mit den Panikattacken umzugehen, dennoch ist eine weitere Traumatherapie notwendig. Die Rückschritte zermürben ihn, aber »ich will es mir selbst auch beweisen, dass dieser ganze Kampf nicht umsonst war«, sagt Matthias fast trotzig und setzt hinzu: »Damit ich endlich mein Leben leben kann wie ich das möchte.« Zehn Jahre, nachdem ein Mann auf einen Spielplatz gestürmt kam und zugeschlagen hat.
»Alles ging den Bach runter«, erinnert sich seine Mutter. »Er hatte sein Selbstwertgefühl total verloren, es war kein normales Leben mehr möglich.«