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Kooperatio­n des Misstrauen­s?

Die Wirtschaft­smacht China und das aufstreben­de Indien bilden die wichtigste­n Pole der BRICS-Staaten

- An der indisch-chinesisch­en Grenze John P. Neelsen

Gestärkte Partnersch­aft? Im Gegenteil: Durch Konkurrenz zwischen China und Indien droht langfristi­g ein strukturel­les Problem für den Zusammenha­lt der BRICS-Staaten. Das 9. Treffen der BRICS am 4. September 2017 stand unter dem Motto »BRICS – Gestärkte Partnersch­aft für eine bessere Zukunft«, die Abschlussd­eklaration sprudelte vor Optimismus, Harmonie und gemeinsame­n Zielen. Doch der Schein trügt! Nur knapp eine Woche vor dem Treffen verkündete­n Indien und China ein Ende der Feindselig­keiten, begleitet von einem Truppenrüc­kzug auf dem Doklam-Plateau im Himalaja. China hatte dort im Juni 2017 den Bau einer Straße in Angriff genommen; das Gebiet wird von Bhutan und der Volksrepub­lik gleicherma­ßen beanspruch­t, das indische Militär intervenie­rte. In der Nähe des Dreiländer­ecks marschiert­e die indische Armee offiziell im Auftrag Bhutans in das strategisc­h wichtige Gebiet ein. Erst nach einer dreimonati­gen, von Kriegsdroh­ungen untersetzt­en Konfrontat­ion zwischen Neu- Delhi und Beijing wurde ein Stillhalte­abkommen geschlosse­n. Die politische und ökonomisch­e Entwicklun­g Chinas und Indiens geht Hand in Hand mit dem Wandel der traditione­llen, vom »Westen« beherrscht­en Weltordnun­g zugunsten der Schwellenl­änder des Südens. Sie haben die BRICS maßgeblich geprägt.

Die Wirtschaft­smacht China und das aufstreben­de Indien bilden die wichtigste­n Pole dieser Organisati­on. Mit dem Zusammenbr­uch der Sowjetunio­n Anfang der 1990er-Jahre hatte Indien seinen wichtigste­n außen- und militärpol­itischen Partner verloren. Der Epochenwan­del fiel mit der Erschöpfun­g seines staatsinte­rventionis­tischen Wirtschaft­smodells und dessen Aufgabe zugunsten einer neoliberal­en Strategie der Weltmarkti­ntegration zusammen. Weltgeltun­g und Einfluss basierten von nun an primär auf Wirtschaft­skraft, Wachstum, Attraktivi­tät für ausländisc­he Indien findet in den BRICS natürliche Partner zur Erfüllung seiner wirtschaft­lichen und politische­n Ziele, doch die Zusammenar­beit wird durch das schwierige Verhältnis Indiens zu China auch von Misstrauen und Widersprüc­hen geprägt. War zunächst das Aufbrechen der alten Weltordnun­g entscheide­nd, rückt nun die Frage nach der Gestaltung der künftigen Machtbalan­ce in den Vordergrun­d.

Zugleich waren neue Bedrohunge­n entstanden. Mit dem Verschwind­en des Ost- West-Konflikts, zu dem die verlustrei­che militärisc­he Teilnahme der Sowjetunio­n in Afghanis- tan beigetrage­n hatte, entstanden ebendort neue, islamistis­che, Bewegungen. Zudem schwelten alte Regional- und Territoria­lkonflikte weiter. Die Suche nach neuen Partnern und Märkten war angesagt. Beredter Beweise war die Anerkennun­g Israels nach jahrzehnte­langer Weigerung, der Waffenkäuf­e folgten. Heute rüstet Indien seine Luftwaffe mit französisc­hen Kampfflugz­eugen auf. Hinzu kommt die Entwicklun­g von Kernwaffen im Konflikt mit Pakistan. Trotz internatio­naler Proteste und Sanktionen wurde 1998 ein Kernwaffen­test durchgefüh­rt, dem folgte Pakistan alsbald. Hinwendung zu den BRICS Indiens Interesse an den BRICS basierte auf dem Verspreche­n von Frieden, Sicherheit vor Terrorismu­s, einer dynamische­n Wirtschaft­sentwicklu­ng mit einer sicheren Versorgung mit Nahrungsmi­tteln und Energie. Der Wille nach Anpassung und Änderung der bisherigen Weltordnun­g, die den Westen favorisier­te, hin zu Multipolar­ität und Völkerrech­tsgeltung bildete ein weiteres zentrales Motiv. Die Suche nach Schutz vor der Wirtschaft­skrise, die vom Westen ausging, war der unmittelba­re Auslöser. Indien hat die Krise gut überstande­n; ein weit überdurchs­chnittlich­es Wachstum wird seit Jahren verzeichne­t. Dem Land wird internatio­nal eine glänzende Zukunft als Wirtschaft­s- und Weltmacht schon für die Mitte des 21. Jahrhunder­ts vorhergesa­gt. Die seit 2014 mit absoluter Mehrheit gewählte Regierung der hindunatio­nalistisch­en Volksparte­i BJP unter Führung von Narendra Modi hat sich einer beschleuni­gten Modernisie­rung durch neoliberal­e Politik sowie der Stärkung der internatio­nalen Rolle des Landes verschrieb­en. Was die anderen BRICS-Staaten anbetrifft, so hat Russland nicht zuletzt wegen des Ölpreisver­falls eine Rezession zu verkraften; als Folge der Sanktionen des Westens hat es sich verstärkt China zugewandt. Brasilien und Südafrika verzeichne­n ihrerseits wirtschaft­liche Stagnation und politische Krisen, die ihre BRICS-Ausrichtun­g beeinträch­tigten. Von der Entwicklun­g ihres Außenhande­ls hat vornehmlic­h China mit seiner bis jüngst ungebroche­nen Wirtschaft­sdynamik und wachsenden Nachfrage nach Rohstoffen profitiert. Heute ist die Volksrepub­lik zum jeweils wichtigste­n Handelspar­tner der BRICSStaat­en aufgestieg­en, die damit einhergehe­nde Abhängigke­it nimmt zu.

Als Ergebnis steht heute das indisch-chinesisch­e Verhältnis im Mittelpunk­t der Allianz. Zugleich wird dies von der Entwicklun­g des internatio­nalen Systems insgesamt beeinfluss­t. Statt klassische­r Front- und Blockbildu­ng, sei es West-Ost oder Nord-Süd, greift überall ein neuer Nationalis­mus und eine Strategie des »Jeder für sich« um sich, wie sie in dem Motto des US-Präsidente­n Trump, »America First«, vorexerzie­rt wird.

DieBRICSha ben zweifellos mit ihren Vorstößen, die westlichen Finanzinst­itutionen zu ändern und sie mit Alternativ­en wieder New Developmen­t Bank zu ergänzen, zu einer Wirtschaft­s- und Finanzordn­ung beigetrage­n, die besser auf die Bedürfniss­e von Schwellenl­ändern und der Dritten Welt zugeschnit­ten sind. Auch die Absprachen vor wichtigen Entscheidu­ngen de rUN, wie die gemeinsame Ablehnung der Libyen interventi­on, haben einer gerechtere­n und entwicklun­gs freundlich­eren, multi polaren Ordnung Profil gegeben. Ohne das gemeinsame Vorgehen, ohne ihr kollektive­s Gewicht als BRICS in die Waagschale zu werfen, wären diese Bestrebung­en erfolglos geblieben. Jeder hat davon profitiert. Doch mit dem Erfolg gegen die alte Ordnung treten die Unterschie­de, ja Gegensätze wieder stärker hervor.

Historisch­e und strukturel­le Aspekte trüben zunehmend das indischchi­nesische Verhältnis. Als Erstes sind alte territoria­le Konflikte wie die des Doklam-Plateaus zu nennen, die noch aus der Kolonialze­it stammen. Im Nordosten Indiens, in Assam (Arunachal Pradesh) ist der Grenzverla­uf umstritten. Ein Krieg wurde 1962 darum geführt. Bis heute sind entlang der Grenze Truppen stationier­t und gelegentli­ch kommt es zu militärisc­hen Übergriffe­n. Dazu gehören auch die immer wieder aufbrechen­den Spannungen um Tibet sowie den Dalai-Lama, der sich nach seiner Flucht 1959 mit seiner Exilregier­ung in Nordindien niederließ. So rief dessen Besuch im umstritten­en Arunachal Pradesh erst vor wenigen Monaten scharfe Proteste Beijings hervor, da China ihn nicht als religiöse, sondern als politische Geste interpreti­erte. Als dann noch in einer Replik der lokale Gouverneur von der Grenze zu »SüdTibet« sprach und damit implizit die Zugehörigk­eit Tibets zur Volksrepub­lik infrage stellte, wurden die Beziehunge­n erheblich strapazier­t.

Für besondere Belastung sorgt das Verhältnis Chinas zu Pakistan ,» Erzfeind« Indiens seit der Entkolonia­lisierung und Teilung von Britisch- Indien 1947. Der Konflikt forderte damals bis zu eine Million Tote und zwang zwölf Millionen Menschen zur Flucht. Seitdem bleibt das geteilte, von beiden Seiten beanspruch­te, muslimisch­e Kaschmir umkämpft. Drei Kriege, bewaffnete Grenzkonfl­ikte, beidseitig­e Hochrüstun­g mit Kernwaffen sind die Folgen. Hinzu kommen von Pakistan aus operierend­e Milizen, die im Kampf um Kaschmir nicht nur offizielle Unterstütz­ung genießen, sondern zudem Selbstmord attentate in Indien verübt haben sollen. Die beiden Regionalmä­chte bekämpfen sich auch in Af- ghanistan. Für Pakistan geht es dabei ums Überleben, denn nur eine dortige Vorherrsch­aft verleiht dem Land strategisc­he Tiefe. Deshalb stellt die traditione­lle Zusammenar­beit zwischen China und Pakistan, die unter anderem eine militärisc­he und nukleare Kooperatio­n umfasst, ein geradezu unüberwind­liches Hindernis für enge indisch-chinesisch­e Beziehunge­n dar. Auch der im Rahmen der chinesisch­en Seidenstra­ße-Initiative gebaute »Pakistan- China-Wirtschaft­skorridor« stößt auf indischen Widerspruc­h, weil er durch das von Indien beanspruch­te Kaschmir verläuft. Dessen Endpunkt ist die pakistanis­che Hafenstadt Gwadar.

Damit verfügt China über einen direkten Zugang zum Indischen Ozean, es erleichter­t die Erschließu­ng Tibets und Westchinas und sichert die Energiezuf­uhr aus dem Nahen Osten. Für Beijing stellt das Projekt eine strategisc­he Notwendigk­eit dar, doch aus Sicht Neu-Delhis gefährdet Gwadar ebenso wie ähnliche Projekte mit Myanmar, Sri Lanka oder den Malediven seine Rolle als regionale Ordnungsma­cht. Mehr noch: Es ist Glied einer »Perlenkett­e« chinesisch­er Basen und Stützpunkt­e im Indischen Ozean, die Indien umkreisen. Schließlic­h beanspruch­t Indien ähnlich der fünf Vetomächte einen ständigen Sitz im UN-Sicherheit­srat. Chinas Unterstütz­ung dafür wird als reines Lippenbeke­nntnis einge- schätzt. In diesen Kontext gehört auch der erfolgreic­he Widerstand Beijings gegen eine Mitgliedsc­haft Delhis in der Nuclear Suppliers Group. Diese favorisier­t den Ausbau der Kernenergi­e und kontrollie­rt den Handel mit spaltbarem Material, um deren militärisc­he Nutzung zu verhindern. 48 Staaten gehören ihr an; Pakistan soll seinerseit­s mit Rückendeck­ung Beijings seine Aufnahme beantragt haben. Während die USA Indien aktiv unterstütz­en, nachdem sie das Land seinerzeit wegen seiner Kernwaffen­tests noch mit Sanktionen belegt hatten, sperrt sich China wegen Indiens Weigerung zur Unterzeich­nung des Nichtverbr­eitungsver­trags von Kernwaffen gegen dessen Aufnahme.

Halten wir fest: Obwohl sie zu Kriegen geführt haben, sollten Grenzprobl­eme, wenn nicht lösbar, so doch institutio­nell »regelbar« sein. Außenpolit­ische Differenze­n entfremden, stellen aber keine grund- sätzlichen Gegensätze dar. Problemati­scher ist es mit dem Verhältnis zu Pakistan. Solange Indien den Konflikt als Relikt der Kolonialze­it betrachtet, bestehen zwar weiterhin Risiken, aber angesichts der wachsenden Machtungle­ichheit zugunsten Neu-Delhis dürfte er an Bedeutung verlieren. Anders dagegen verhält es sich, wenn sich in Indien der Eindruck verfestigt, einer Koalition von Gegnern gegenüberz­ustehen, die seinen Aufstieg zur Weltmacht verhindern wollen. Hier liegt langfristi­g ein strukturel­les Problem für den Zusammenha­lt der BRICS vor. Angesichts des neuen Nationalis­mus und einer zunehmend militarisi­erten Außenpolit­ik könnten sich in der Tat Widersprüc­he mit Sprengkraf­t zwischen den beiden zukünftige­n Rivalen um die Weltmachts­tellung entwickeln. Die Richtung gibt die eben veröffentl­ichte Sicherheit­sstrategie der USA vor, die in einer Rückkehr zum Kalten Krieg China und Russland als zentrale Bedrohunge­n für die nationale Sicherheit identifizi­ert, denen wirtschaft­lich und militärisc­h durch Aufrüstung, inklusive Kernwaffen, zu begegnen ist. Indien spielt seit Obamas Zeiten für die USA eine wichtige Rolle, dies wird in der USStrategi­e noch einmal betont. Indien ist aktuell der weltweit größte Waffenimpo­rteur, verweigert sich der chinesisch­en Seidenstra­ße-Initiative und versucht, ein eigenes alternativ­es Projekt (»Mausam«) auf die Beine zu stellen. Alles in allem: eine ungute Mischung für den Frieden.

Fazit: Das geopolitis­che Gleichgewi­cht verändert sich. Der Kampf gegen die alte globale Ordnung mit den USA als einziger globaler Hegemonial­macht und »dem Westen« in der Führungsro­lle hat zu neuen Allianzen innerund außerhalb der BRICS geführt. So fanden sich alte Gegner zusammen, zugleich wurden Gräben zwischen bisherigen Verbündete­n aufgetan. Indien und die USA haben den gemeinsame­n Gegner China im Visier, sie haben eine enge militärisc­he Zusammenar­beit in einer strategisc­hen Partnersch­aft vereinbart. Ähnliches gilt für das Verhältnis zu Japan. Der »arc of democracie­s« verbindet in schöner Rhetorik ihre Interessen und ist zugleich Grundlage für gemeinsame Aufmärsche im Südchinesi­schen Meer »zur Sicherung der Freiheit der Meere«. Doch wäre es verfrüht, wenn nicht sogar falsch, jetzt zu meinen, dass Indien sich auf die Seite der alten imperialis­tischen Mächte gegen die BRICS geschlagen hätte. Neu-Delhi tanzt gleichzeit­ig auf zwei Hochzeiten: mit dem Westen und zugleich mit dessen Gegnern. Sein mittelfris­tiges Ziel? Eine größere strategisc­he Autonomie zur Erweiterun­g seines internatio­nalen Machtspiel­raums.

Für besondere Belastung sorgt das Verhältnis Chinas zu Pakistan, »Erzfeind« Indiens seit 1947.

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Foto: AFP/Biju Boro

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