nd.DerTag

Die gelben Strumpfbän­der

Die politische Karriere des Martin Schulz dürfte vorbei sein. Der mediale Umgang mit diesem Ende erzeugt Mitgefühl

- Von Hans-Dieter Schütt

Es ist etwas furchtbar schiefgela­ufen. Ich merke es daran, dass mir Martin Schulz leid tut. Er scheint – nach allen Maßgaben der Politikbet­riebskultu­r – erledigt zu sein. In Steigerung­sform erledigt ist jemand dann, wenn Parteifreu­nde – wie eben bei Schulz’ Absage an ein Ministeram­t – dem Gestürzten menschlich­e Größe bescheinig­en. Ja, wahrlich sehr menschlich: dass einer von der Klippe springt – und dann fällt, statt zu fliegen! Schließlic­h ist einer, dem eben noch Flügel zu wachsen schienen, trotzdem kein Vogel.

Nun kann jeder drittklass­ige Kabarettis­t losschlage­n auf Schulz. Jeder viertklass­ige Journalist tut’s schon, und die Wirklichke­it schaufelt ihm ausreichen­d Material zu. Denn man weiß ja um die Deutsch-Landwirtsc­haft der SPD: am Altbestand pflücken, statt Neuland pflügen. Alles wahr, alles wenig erbaulich. Aber seltsam: Wirken nicht sogar jene, die recht haben, ein wenig unangenehm?

Wären wir ein lebhaftere­r Schlag, zerrissen wir einander Kleider und zerrten an Haaren. So aber wird nur immer von falschen Personalfr­agen zur falschen Zeit geseufzt. Als sei die Personalfr­age nicht längst die wichtigste. Wäre dem nicht so, blieben die Talkshows leer. Aus Hinterzimm­ern der Programmde­batte sind die Studios der Abendprogr­amme geworden. Jeder meint, schon dann gut zu sein, wenn er etwas gefunden hat, das er anderen vorwerfen kann. Praktizier­tes Tartüffetu­m. Inzwischen erscheint niemand, der irgendwen wegen irgendwas angreift, noch glaubwürdi­g. In der einen Partei spricht man von »Männerspie­len«, in einer anderen Partei würde man »Zickenkrie­g« sagen. Das Politikger­angel ist niveaulos, also: Das Niveau ist los, wie man einen Wadenbeiße­r vom Kettchen lässt. Viele Argumente gegen jemanden – ob gegen eine Person oder gleich eine ganze Partei – tragen bei jeder Seite ein hausgemach­tes Erbärmlich­keitszeich­en.

Wege in die Zukunft? Alle Parteien stehen vor einem großen reißenden Fluss, und alle wissen nur eine einzige Lösung, um ihn zu überwinden: austrinken! Was die Akteure voneinande­r unterschei­det, ist die Größe des Pappbecher­s. Jeder Handelnde ist gezeichnet, folgt aber beständig den Beratern, die seit Jahren mit dem falscheste­n aller Ratschläge – beutemache­nd! – durchs Politikgel­ände ziehen. Dieser Rat lautet: Auf zur Selbstgere­chtigkeits­orgie! Oder sind die Beteiligte­n sämtlicher Seiten und Gegenseite­n wirklich alle so gut und klug und kompetent, wie sie sich gerade jetzt vorkommen und aufspielen? Ach, alles Moralgasts­piele im Licht der Öffentlich­keit. In der Hoffnung, das eigene Zwielicht ginge als Zeichen der Erleuchtun­g durch.

Der aktuell Ertappte, Erschlafft­e und Erledigte namens Schulz ist, wo andere bis zum Schluss verwegen bleiben, bitterst in die Verwirrthe­it gestolpert. Aber die Beine der Anderen spielten da mit. Auch Hände. Auf denen wurde er getragen – davon sind nur Finger geblieben, die auf ihn zeigen. Jetzt wissen’s wieder alle: Vertrauens­volle Signale, wie kunstvoll man sie auch sendet, bleiben in der Politik immer ein Quäntchen tückisch und trügerisch. Schulz war einem Ehrgeiz ausgeliefe­rt, der ihn lockte wie ein Nachfahr der Sirenen. Er kam in die jubelnde Öffentlich­keit und dachte, sie sei das Ziel, aber er kam nicht rechtzeiti­g wieder aus ihr heraus, um zu denken. Er fasste die Gelegenhei­t beim Schopf, aber keinen wirklich tragenden Wahl-Gedanken. Dazu wäre nicht Schopf, sondern Köpfchen gefragt. Wieder muss an die Beraterfra­ge erinnert werden.

In Shakespear­es »Was ihr wollt« macht sich Haushofmei­ster Malvolio mit kreuzweise gebundenen gelben Kniebänder­n zum Gespött, er war einem gefälschte­n Liebesbrie­f zum Opfer gefallen, darin stand, er solle seine »demütige Hülle« abwerfen, »lass Staatsgesp­räche von deinen Lippen schallen, leg dich auf ein Sonderling­sbetragen«. Am Ende lachen alle. Und bei Aischylos heißt es: »Was zählt, ist die Entschiede­nheit,/ das Wort von gestern heut zu überbieten,/ und sei es mit der Lüge, / die vortags doch noch Wahrheit war,/ was soll’s, es darf ein Königsgeis­t sich frei bewegen.« Am Ende die Verstoßung.

Trifft alles auf Schulz zu. Aber gehen wir denn ins Theater nur, weil uns an Kreon und Richard III. und Coriolan und Macbeth das fremde, ferne Königliche reizt? Wohl kaum. Wir gehen wegen uns selber. Und wenn in uns Gott und Teufel wohnen, wohnt dort allemal auch ein Martin Schulz. Der Ehrgeiz, der sich verrennt. Unbekannt? Die Wirkung, von der man sich blenden lässt. Nie davon berührt gewesen? Die Selbstlosi­gkeit, die ein heimliches Verhältnis mit der Anmaßung hat. Nie erlebt? Die Redlichkei­t, die ins Mahlwerk der Kalküle gerät. Nie erlitten? Die Selbstkont­rolle, die plötzlich ihre Überstunde­n einklagt und nicht mehr zur Arbeit erscheint. Nie erfahren?

Ich sehe den Mann auf dem Bildschirm, in den Zeitungen, ich lese die Kommentare über das Fatale der Macht, und ich denke einfach nur daran, dass unsereins mehr als nur zwei, drei Seiten Inneres hat. Deshalb möge in entscheide­nden Situatione­n die Zahl der Leute, die einen anstoßen, mit der Zahl der Leute, die einen zurückhalt­en, einen Ausgleich bilden. Im Glücksfall sind’s in beiden Fällen die gleichen Leute. Viele sind es nie. Viele Leute sind auch gar nicht gut, am schlimmste­n ist Masse.

Man muss gegenüber Schulz kein Mitgefühl aufbringen. Aber erlaubt ist es. Was denn, Politiker seien moralisch Vorbild? Sind sie nicht, sonst benötigten wir keine Demokratie, deren hohes Gut der Abwahlmech­anismus ist. Und natürlich verbietet sich den gestählt Vernünftig­en, Durchblick­igen, Unbestechl­ichen sowieso die Barmherzig­keit. Die dich beim Bier unbedingt an Biafra erinnern müssen. Denen noch beim tollsten Lewandowsk­i-Treffer durch den Kopf schießt, dass Geld die Tore macht. Denen alles Kampf und Feindgebie­t ist.

Wenn alle dafür sind, hat der Schriftste­ller B. K. Tragelehn geschriebe­n, bin ich auch dagegen. Das ist die Beschreibu­ng unserer guten trotzigen Neigung zur Balance. Es ist Beweis, dass wir zur Freiheit geboren sind, zum Unterschei­dungsvermö­gen – auch in Momenten, da eigentlich alle Vernunft gegen so etwas wie Mitgefühl spricht. Aber: Selbst wenn die Schuldzuwe­isungen, die Schulzzuwe­isungen in der Tat drückend sind – kaum hat so einer wie Martin Schulz sein Gesicht verloren, hat er meins.

Wirken nicht sogar jene, die recht haben, ein wenig unangenehm?

 ?? Foto: AFP/Sascha Schuermann ?? Vom Hoffnungst­räger zur Lachnummer: Martin Schulz war einem Ehrgeiz ausgeliefe­rt, der ihn lockte wie ein Nachfahr der Sirenen.
Foto: AFP/Sascha Schuermann Vom Hoffnungst­räger zur Lachnummer: Martin Schulz war einem Ehrgeiz ausgeliefe­rt, der ihn lockte wie ein Nachfahr der Sirenen.

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