Die gelben Strumpfbänder
Die politische Karriere des Martin Schulz dürfte vorbei sein. Der mediale Umgang mit diesem Ende erzeugt Mitgefühl
Es ist etwas furchtbar schiefgelaufen. Ich merke es daran, dass mir Martin Schulz leid tut. Er scheint – nach allen Maßgaben der Politikbetriebskultur – erledigt zu sein. In Steigerungsform erledigt ist jemand dann, wenn Parteifreunde – wie eben bei Schulz’ Absage an ein Ministeramt – dem Gestürzten menschliche Größe bescheinigen. Ja, wahrlich sehr menschlich: dass einer von der Klippe springt – und dann fällt, statt zu fliegen! Schließlich ist einer, dem eben noch Flügel zu wachsen schienen, trotzdem kein Vogel.
Nun kann jeder drittklassige Kabarettist losschlagen auf Schulz. Jeder viertklassige Journalist tut’s schon, und die Wirklichkeit schaufelt ihm ausreichend Material zu. Denn man weiß ja um die Deutsch-Landwirtschaft der SPD: am Altbestand pflücken, statt Neuland pflügen. Alles wahr, alles wenig erbaulich. Aber seltsam: Wirken nicht sogar jene, die recht haben, ein wenig unangenehm?
Wären wir ein lebhafterer Schlag, zerrissen wir einander Kleider und zerrten an Haaren. So aber wird nur immer von falschen Personalfragen zur falschen Zeit geseufzt. Als sei die Personalfrage nicht längst die wichtigste. Wäre dem nicht so, blieben die Talkshows leer. Aus Hinterzimmern der Programmdebatte sind die Studios der Abendprogramme geworden. Jeder meint, schon dann gut zu sein, wenn er etwas gefunden hat, das er anderen vorwerfen kann. Praktiziertes Tartüffetum. Inzwischen erscheint niemand, der irgendwen wegen irgendwas angreift, noch glaubwürdig. In der einen Partei spricht man von »Männerspielen«, in einer anderen Partei würde man »Zickenkrieg« sagen. Das Politikgerangel ist niveaulos, also: Das Niveau ist los, wie man einen Wadenbeißer vom Kettchen lässt. Viele Argumente gegen jemanden – ob gegen eine Person oder gleich eine ganze Partei – tragen bei jeder Seite ein hausgemachtes Erbärmlichkeitszeichen.
Wege in die Zukunft? Alle Parteien stehen vor einem großen reißenden Fluss, und alle wissen nur eine einzige Lösung, um ihn zu überwinden: austrinken! Was die Akteure voneinander unterscheidet, ist die Größe des Pappbechers. Jeder Handelnde ist gezeichnet, folgt aber beständig den Beratern, die seit Jahren mit dem falschesten aller Ratschläge – beutemachend! – durchs Politikgelände ziehen. Dieser Rat lautet: Auf zur Selbstgerechtigkeitsorgie! Oder sind die Beteiligten sämtlicher Seiten und Gegenseiten wirklich alle so gut und klug und kompetent, wie sie sich gerade jetzt vorkommen und aufspielen? Ach, alles Moralgastspiele im Licht der Öffentlichkeit. In der Hoffnung, das eigene Zwielicht ginge als Zeichen der Erleuchtung durch.
Der aktuell Ertappte, Erschlaffte und Erledigte namens Schulz ist, wo andere bis zum Schluss verwegen bleiben, bitterst in die Verwirrtheit gestolpert. Aber die Beine der Anderen spielten da mit. Auch Hände. Auf denen wurde er getragen – davon sind nur Finger geblieben, die auf ihn zeigen. Jetzt wissen’s wieder alle: Vertrauensvolle Signale, wie kunstvoll man sie auch sendet, bleiben in der Politik immer ein Quäntchen tückisch und trügerisch. Schulz war einem Ehrgeiz ausgeliefert, der ihn lockte wie ein Nachfahr der Sirenen. Er kam in die jubelnde Öffentlichkeit und dachte, sie sei das Ziel, aber er kam nicht rechtzeitig wieder aus ihr heraus, um zu denken. Er fasste die Gelegenheit beim Schopf, aber keinen wirklich tragenden Wahl-Gedanken. Dazu wäre nicht Schopf, sondern Köpfchen gefragt. Wieder muss an die Beraterfrage erinnert werden.
In Shakespeares »Was ihr wollt« macht sich Haushofmeister Malvolio mit kreuzweise gebundenen gelben Kniebändern zum Gespött, er war einem gefälschten Liebesbrief zum Opfer gefallen, darin stand, er solle seine »demütige Hülle« abwerfen, »lass Staatsgespräche von deinen Lippen schallen, leg dich auf ein Sonderlingsbetragen«. Am Ende lachen alle. Und bei Aischylos heißt es: »Was zählt, ist die Entschiedenheit,/ das Wort von gestern heut zu überbieten,/ und sei es mit der Lüge, / die vortags doch noch Wahrheit war,/ was soll’s, es darf ein Königsgeist sich frei bewegen.« Am Ende die Verstoßung.
Trifft alles auf Schulz zu. Aber gehen wir denn ins Theater nur, weil uns an Kreon und Richard III. und Coriolan und Macbeth das fremde, ferne Königliche reizt? Wohl kaum. Wir gehen wegen uns selber. Und wenn in uns Gott und Teufel wohnen, wohnt dort allemal auch ein Martin Schulz. Der Ehrgeiz, der sich verrennt. Unbekannt? Die Wirkung, von der man sich blenden lässt. Nie davon berührt gewesen? Die Selbstlosigkeit, die ein heimliches Verhältnis mit der Anmaßung hat. Nie erlebt? Die Redlichkeit, die ins Mahlwerk der Kalküle gerät. Nie erlitten? Die Selbstkontrolle, die plötzlich ihre Überstunden einklagt und nicht mehr zur Arbeit erscheint. Nie erfahren?
Ich sehe den Mann auf dem Bildschirm, in den Zeitungen, ich lese die Kommentare über das Fatale der Macht, und ich denke einfach nur daran, dass unsereins mehr als nur zwei, drei Seiten Inneres hat. Deshalb möge in entscheidenden Situationen die Zahl der Leute, die einen anstoßen, mit der Zahl der Leute, die einen zurückhalten, einen Ausgleich bilden. Im Glücksfall sind’s in beiden Fällen die gleichen Leute. Viele sind es nie. Viele Leute sind auch gar nicht gut, am schlimmsten ist Masse.
Man muss gegenüber Schulz kein Mitgefühl aufbringen. Aber erlaubt ist es. Was denn, Politiker seien moralisch Vorbild? Sind sie nicht, sonst benötigten wir keine Demokratie, deren hohes Gut der Abwahlmechanismus ist. Und natürlich verbietet sich den gestählt Vernünftigen, Durchblickigen, Unbestechlichen sowieso die Barmherzigkeit. Die dich beim Bier unbedingt an Biafra erinnern müssen. Denen noch beim tollsten Lewandowski-Treffer durch den Kopf schießt, dass Geld die Tore macht. Denen alles Kampf und Feindgebiet ist.
Wenn alle dafür sind, hat der Schriftsteller B. K. Tragelehn geschrieben, bin ich auch dagegen. Das ist die Beschreibung unserer guten trotzigen Neigung zur Balance. Es ist Beweis, dass wir zur Freiheit geboren sind, zum Unterscheidungsvermögen – auch in Momenten, da eigentlich alle Vernunft gegen so etwas wie Mitgefühl spricht. Aber: Selbst wenn die Schuldzuweisungen, die Schulzzuweisungen in der Tat drückend sind – kaum hat so einer wie Martin Schulz sein Gesicht verloren, hat er meins.
Wirken nicht sogar jene, die recht haben, ein wenig unangenehm?