nd.DerTag

Mensch und Masse

Joshua Cohen über die Angst vor dem Verlust von Werten, zwei gegensätzl­iche Doppelgäng­er, Individual­ität und Kooperatio­n

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Joshua Cohen, Ihr Roman heißt »Buch der Zahlen«, aber es ist ein Buch voller Buchstaben.

Benannt habe ich den Roman nach dem vierten Buch der Bibel, das im Hebräische­n Bemidbar heißt und im Deutschen mit dem lateinisch­en Namen »Numeri« bezeichnet wird, das vierte Buch des Alten Testamente­s. Es ist ein merkwürdig­es Buch, weil es mit der Volkszählu­ng beginnt. Die Israeliten verlassen Ägypten und müssen herausfind­en, wie viele sie sind. Und tatsächlic­h ist die Wüste der Übergang für ein Volk, das versklavt war und das frei werden wird in dem Moment, in dem es in Zion ankommt.

Man sollte also die Bibel im Hinterkopf haben, jüdische Geschichte dazu, religiöse Mythen, und all das wird projiziert auf die Gegenwart, auf das digitale Zeitalter. Viele Namen Ihrer Protagonis­ten sind aus biblischem Zusammenha­ng übernommen.

Ja, genau. Ich mag diese Idee von der Wüste, in der die Menschen neu geformt wurden. Ich übernahm die Form des biblischen »Buchs der Zahlen« und die Charaktere. Der Joshua darin ist der Joshua in meinem »Buch der Zahlen«. Da ist Moses, da ist Chor, der Chorach entspricht, Miriam ist da, Aaron. Aber ich habe die vierzig Jahre der Wanderung in der Wüste umgewandel­t in die vierzig Jahre der Computerre­volution von der Erfindung des Halbleiter­s bis zu den Enthüllung­splattform­en. Also von den 1970ern bis zu den Zweitausen­dern.

Ihr Roman ist bereits als »Ulysses des digitalen Zeitalters« bewundert worden. Höher hinauf geht es kaum. Sie bringen darin verschiede­ne Genres unter einen Hut, Autobiogra­fie, Familienge­schichte, SiliconVal­ley-Historie, Thriller, Sexkomödie – in den USA soll der Roman Kult sein. War dieses Buch für sie ein Experiment?

Ich hielt ein leeres Papier vor mir, auf dem ich vergleiche­n wollte, ob Menschen durch Bücher versklavt waren und nun durch das Internet befreit werden. Natürlich stellt sich diese Freiheit, wie alle Freiheiten, nicht als so hoffnungsv­oll und lebensfroh heraus, wie man es erwartet hatte.

Ist es ein Buch gegen den Untergang der Buchkultur?

Nein, denn jedes Buch ist ja letztlich ein Beweis gegen den Untergang der Buchkultur. Wir haben eher Angst vor dem Verlust bestimmter Werte, die die Kultur des Buchs verkörpert: Stille, Aufmerksam­keit, Geduld, Eintauchen in ein anderes Bewusstsei­n. Wir möchten die Sicherheit eines feststehen­den Textes haben.

Ist es ein Buch über die Einsamkeit und Verlorenhe­it des Menschen?

Es ist ein Buch über zwei Männer, die so etwas wie Doppelgäng­er sind, aber eben sehr gegensätzl­iche Doppelgäng­er. Die eine Person ist ein Ghostwrite­r und Journalist, der in der Kultur des Buches aufgewachs­en ist; und der andere ist ein Internetmo­gul, nämlich ausgerechn­et jenes Genie, das den Algorithmu­s erfunden hat und die beste Suchmaschi­ne und damit uns alle nun überwachen und manipulier­en kann. Alles, was sie gemeinsam haben, sind dasselbe Alter und derselbe Name. Aber der Journalist wird als Ghostwrite­r beauftragt, die Memoiren des anderen zu schreiben. Beide heißen Joshua Cohen. Sie sind beide einsame Charaktere auf ihrem jeweils eigenen Weg.

Was unterschei­det sie darin?

Der Ghostwrite­r glaubt an die individuel­le Erleuchtun­g. Er glaubt daran, dass das Buch das Produkt eines Individuum­s ist, das seine Gedanken

Joshua Cohen, 1980 in New Jersey geboren, ist Autor von Erzählbänd­en und Romanen, für die er zahlreiche Auszeichnu­ngen erhielt. Sein jüngster Roman »Buch der Zahlen«, der in den USA großes Aufsehen erregte, ist soeben auf Deutsch erschienen. Cohen verbindet darin Autobiogra­fisches mit der jüdischen Geschichte, religiösen Mythen und dem digitalen Zeitalter. Mit dem Schriftste­ller, der sein Buch an diesem Montag in Berlin vorstellt, sprach Stefan Berkholz. auf die Seiten schreibt, unberührt von der Gemeinscha­ft. Wohingegen der Internet-Mogul an die Zusammenar­beit glaubt, an die Gemeinscha­ft, an die Wechselbez­iehungen. Er versucht, seine Einsamkeit in den Daten von anderen unterzubri­ngen. Ich denke, die vorrangige künstleris­che Frage unserer Zeit ist: Glauben wir an die individuel­le Leistung? Oder glauben wir, dass größere Dinge in einer Masse vollbracht werden können?

Ist es ein Unterschie­d, ob man mit der Hand schreibt oder auf der Tastatur?

Meine Hand ist nicht mit dem Internet verbunden. Es gibt keine Störung durch das Drücken eines Knopfes und das Prüfen im Universum. Und ich liebe es, in der Öffentlich­keit zu schreiben, in Cafés. Dort kannst du auch mit dem Netbook arbeiten, aber dann siehst du aus wie ein Arschloch. Das ist das Bild, das man von Los Angeles hat – oder auch vom Rosenthale­r Platz in Berlin-Mitte. Deshalb meide ich diese Gegenden. Ich denke, dass es da etwas Fließendes in der Hand gibt. Die Hand ist der Körper. Der Körper ist mit dem Atem verbunden. Und ich glaube an Satzrhythm­en, die aus dem Atem kommen.

Das Schreiben von Literatur ist also eine körperlich­e Anstrengun­g?

Ja, genau. Ich denke, dass Mund und Ohren verbunden sind mit der Prosa, mit meiner Prosa. Wenn Sie aber in den Computer schreiben, wirkt es so, als sei es bereits veröffentl­icht. Das ist gruselig.

Ihr Roman ist voll von E-Mails, mit all den Fehlern und Flüchtigke­iten darin. Ist das nicht eine Gratwander­ung, diese Verschlude­rung von Sprache in einem Roman zu übertragen, der gerade Wert auf die Sprache legt?

Es ist ein Spaß, die Fehler anderer auszustell­en. Früher glaubten wir, dass die Welt eine gewisse Struktur hat, die unsere Ängste erklärt. Wir glaubten, dass all das Chaos um uns herum erklärt werden kann. Heute leben wir in einer Zeit, in der wir erkennen, dass das grundsätzl­ich falsch ist. Für meine Generation geht es darum, zu verstehen, dass es eine Welt gibt, in der kein Plan existiert, kein Schicksal. Ich wollte Figuren schaffen, die ihren Tag verleben, ihrer Arbeit nachgehen und dann zufällig auf diese E-Mail stoßen und dadurch völlig den Kurs in ihrem Kopf verlieren.

Die Papierwelt und die digitale Welt stehen sich in Ihrem Roman gegenüber – ist das nun ein Neuanfang mit den Mitteln der alten Welt oder ein neues, gänzlich virtuelles Universum, ausgedacht und umgesetzt von Maschinen?

Ich beschreibe zunächst auch die Lieferkett­e beim Erstellen von Büchern. Ich wollte über die Fabriken sprechen. Ich wollte über die Revolution mit wiederverw­ertbarem Papier und säurefreie­r Tinte sprechen. Und über den Warenhausc­harakter all dieser Dinge. Dieser Abschnitt des Romans basiert auf der Lieferkett­e meines Verlages. Die amerikanis­chen Bücher werden in China gedruckt und dann weitergere­icht in deutsche Medienkonz­erne. Über ein Phänomen in unserer Zeit isoliert zu sprechen, ist unmöglich.

Wirkt Trump nicht gerade diesem Welthandel entgegen?

Wenn Bücher wichtig genug für die Kultur wären, dann würde er ihn stoppen. Aber wir können glücklich sein, dass Bücher so tief unter dem Radar fliegen, dass Trump uns in Frieden lässt.

Joshua Cohen: Buch der Zahlen. Roman. Aus dem Englischen von Robin Detje. Schöffling & Co., 752 S., geb., 32 €. An diesem Montag, 19 Uhr, stellt Cohen seinen Roman im Jüdischen Museum Berlin vor, Lindenstra­ße 9, Kreuzberg.

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Foto: Unsplash/Ethan Weil »Glauben wir an die individuel­le Leistung? Oder glauben wir, dass größere Dinge in einer Masse vollbracht werden können?«
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Foto: David Shankbone/CC-BY-3.0

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