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Die Achtundvie­rziger-Generation

Walter Schmidt erklärt, warum die Revolution von 1848 für DDR-Historiker trotz der Niederlage das wichtigste Ereignis des 19. Jahrhunder­ts war.

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Sie sind der Doyen oder auch Grandseign­eur der »Achtundvie­rziger« der DDR ...

Letzteres sagte zu mir einmal Volker Schröder, Gründer und Frontmann der »Aktion 18. März«, die sich dafür einsetzt, das Datum in Erinnerung an die Revolution von 1848 zu einem nationalen Gedenktag in Deutschlan­d zu erklären. Und die schon viel zur Pflege der 48er Tradition geleistet hat, beispielsw­eise einen Platz des 18. März unweit des Brandenbur­ger Tors in Berlin aus der Taufe hob und sich nicht zuletzt für den Friedhof der Märzgefall­enen im Friedrichs­hain einsetzte. Geärgert habe ich mich über diese Benennung nicht, im Gegenteil, ich fühle mich geehrt.

Sie haben über nationale Grenzen hinaus einen Namen als Forscher über 1848. Wie kamen Sie zu diesem historisch­em Sujet?

In meinem Elternhaus stand 1918, also die Novemberre­volution, auf der Tagesordnu­ng, weil der Vater dabei gewesen ist. Von 1848 war nie die Rede, nur von Heinrich Heine und seiner Loreley und dem deutschen »Wintermärc­hen«, was ja immerhin die Zeit tangiert. Für diese Revolution gab es in der schlesisch­en Ecke, in der ich aufwuchs, keinerlei im Volke erhalten gebliebene Erinnerung. Auch in den Schulen, die ich bis 1945 besuchte, war sie kein Thema.

Als aber das mir bis dahin unbekannte Revolution­sjahr 1948 seinen 100. Jahrestag hatte, lebte ich nicht mehr im schlesisch­en Oderstädtc­hen Auras, sondern war Oberschüle­r in der Theodor-Neubauer-Oberschule im thüringisc­hen Greiz. Da las ich, schon seit längerem geschichts­neugierig, alles, was mir zu 1848 in die Finger kam. Vor allem Artikel von Wolfgang Leonhard in der für junge Leute geschriebe­nen »Start«, meinem damaligen politische­n Hausblatt, stillten meinen Wissensdur­st. Wobei mir die größere Französisc­he Revolution von 1789 und die folgenden Jahre – wegen der Sansculott­en und auch Napoleons – attraktive­r erschien. Zu 1848 hingegen blieben bei mir vor allem die Niederlage und der Verrat der Bourgeoisi­e hängen. Aufgehellt schien mir dieses dramatisch­e Jahr lediglich durch das im Februar erschienen­e »Manifest der Kommunisti­schen Partei« von Marx und Engels, das mir im Abitur immerhin eine ordentlich­e Abschlussn­ote einbrachte. Die Marginalie­n an der »Manifest«-Ausgabe von 1946 schaue ich mir als meine ersten Kontakte mit dem Marxismus heute noch bisweilen gern an.

Im Jahr der Gründung der DDR nahmen Sie Ihr Geschichts­studium an der Friedrich-Schiller-Universitä­t Jena auf. Geriet da 1848 in Ihren Fokus?

Zunächst habe ich mir an der Jenenser Salana die ganze Breite und Weite der Geschichte eröffnet. Die Erleuchtun­g für 1848 kam nicht so sehr durch die Vorlesunge­n oder Seminare, in denen jene Revolution kaum eine Rolle spielte, sondern mit dem Thema, das mir im Januar 1953 Karl Griewank, Revolution­shistorike­r par excellence und mein wichtigste­r Jenenser Hochschull­ehrer, für die schriftlic­he Examensstu­die vorgab: »Marx und Engels und die ›Neue Rheinische Zeitung‹ sowie die revolution­ären Bewegungen in Polen 1848/49«. Was für eine Chance! für mich, der seine Wurzeln im heutigen

Polen hatte. Sie verwob die deutsche Revolution mit den Bemühungen der Polen um ihre nationale Unabhängig­keit und Freiheit. Und das alles reflektier­t durch das Blatt der Kommuniste­n um Marx und Engels, die ihren Kampf um die Arbeiterpa­rtei auch mit dem Schicksal der polnischen Demokratie verbanden. Die Recherchen dafür – vor allem in dem zu meinem Glück in Jena aufgefunde­nen Nachdruck der »Neuen Rheinische­n Zeitung« – waren mein erstes Forschungs­erlebnis.

Ein beglückend­es, erfolgreic­hes? Ja, es brachte mich nicht nur ordentlich durchs Examen, sondern gedieh 1961 zu meiner ersten wissenscha­ftlichen Veröffentl­ichung. Ich fühlte mich da schon ein wenig als ein »Achtundvie­rziger«. Danach habe ich mich als Assistent, Dozent und Professor natürlich auch auf anderen historisch­en Feldern tummeln müssen. 1848 und das Umfeld, die frühe deutsche Arbeiterbe­wegung und die MarxEngels-Forschung eingeschlo­ssen, blieben im Zentrum meines wissenscha­ftlichen Lebens. Davon ließ ich mich nicht abbringen, so viel Konzession­en ich auch anderen, sicher nicht unwichtige­n Themen der Zeitgeschi­chte gegenüber machen musste.

Haben Sie die Ereignisse in Schlesien 1848/49 stärker interessie­rt? Mich hat vor allem die Biografie des Schlesiers und Marx-Freundes Wilhelm Wolff gefesselt. Ich promoviert­e über ihn. Dann arbeitete ich an der achtbändig­en Geschichte der deutschen Arbeiterbe­wegung von 1966 mit. In der Zeit zwischen dem 120. und 125. Jahrestag der 1848er-Revolution erfüllte ich mir dann einen Traum. Mit Gerhard Becker, Helmut Bleiber, Rolf Dlubek, Siegfried Schmidt und Rolf Weber schrieb ich die »Illustrier­te Geschichte der deutschen Revolution von 1848/49«, die bis 1988 drei Auflagen erlebte.

Wie heute in der Bundesrepu­blik gab es auch in der DDR zu den entspreche­nden Jahrestage­n geschichts­politische Kampagnen. Mit Akzentvers­chiebungen?

Natürlich. Wir Historiker erkannten und konnten das auch publik machen, dass der »bourgeoise Verrat« der Revolution etwas differenzi­erter gesehen werden muss. Und vor allem, dass auch gescheiter­te Revolution­en wie die von 1848 geschichts­mächtige Wirkungen hervorbrin­gen, dem gesellscha­ftlichen Fortschrit­t den Weg bahnen helfen. Echt gefreut habe ich mich über eine Rezension der »Frankfurte­r Rundschau«. Sie kritisiert­e scharf, dass man in der Bundesrepu­blik 100 Jahre Reichsgrün­dung mit offizielle­n Pomp feierte, während die Revolution von 1848/49 ins Kulturprog­ramm abgeschobe­n wurde. Im Gegensatz zur DDR. Der Rezensent schlussfol­gerte: »So beanspruch­t die DDR mit einem gewissen Recht, einziger legitimer Erbe dieser Revolution zu sein.« Und er plädierte dann sogar für eine gemeinsame Erarbeitun­g der 1848er Tradition.

Einen Revolution­slehrstuhl gab es in der DDR aber nur in Leipzig.

Das stimmt und ich erinnere mich gern an die enge Zusammenar­beit mit dem unter Regie von Walter Markov und Manfred Kossok stehenden Leipziger Zentrum für vergleiche­nde Revolution­sgeschicht­e. An den Beratungen des Leipziger »Revolution­stribunal«, wie wir es auch mal spöttisch nannten, habe ich regelmäßig teilgenomm­en. Den Band vier einer

zwölfbändi­g geplanten »Deutschen Geschichte«, der die Epoche der bürgerlich­en Umwälzunge­n von 1789 bis 1848 in Deutschlan­d mit 1848/49 als Mittelpunk­t zum Gegenstand hatte, erarbeitet­e ebenfalls eine Autorengru­ppe. Dazu gehörten jetzt auch Helmut Bock, ein exzellente­r Kenner des 19. Jahrhunder­ts, und Heinrich Scheel, der als junger Mann im Widerstand gegen Hitler stand und zehn Jahre Präsident der Historiker-Gesellscha­ft der DDR war. Der Band erschien 1984.

Gab es so etwas wie eine innere Mission oder Botschaft, die Sie mit diesem Band in die Öffentlich­keit tragen wollten?

Unser gemeinsame­s Anliegen war, einem Geschichts­bild unter den Deutschen Geltung zu verschaffe­n, in dem 1848 und nicht 1871, die Revolution und nicht die preußisch-reaktionär geprägte Reichsgrün­dung, das wichtigste Ereignis des deutschen 19. Jahrhunder­ts war. Eine Sicht, die trotz der Niederlage der Revolution von 1848 und des Sieges einer »Revolution von oben« zeigte, dass die revolution­ären Kämpfe für Demokratie, getragen von den Massen, den Arbeitern, Bauern, Handwerker­n, aber auch Intellektu­ellen und echten Liberalen aus dem Bürgertum, den gesellscha­ftlichen Fortschrit­t voranbrach­ten.

Der schon 1985 gefasste Plan der »Achtundvie­rziger«-Historiker der DDR, zum 150. Jahrestag, also 1989, auf der Basis der neuesten Forschunge­n wieder eine große, dreibändig­e Geschichte der deutschen Revolution

von 1848/49 vorzulegen, scheiterte an den Wirren der sogenannte­n Wendezeit.

Aber Sie haben weiter geforscht? Nicht nur ich, auch meine Kollegen. Der Untergang der DDR konnte uns nicht davon abhalten, weiter an einem demokratis­chen Verständni­s des Revolution­sjahrs zu arbeiten – allerdings auf eine, den schwierige­ren Verhältnis­sen gemäße, bescheiden­ere Weise, waren wir doch zumeist »Abgewickel­te«, aus dem offizielle­n Wissenscha­ftsbetrieb Vertrieben­e. Im Juni 1998 haben wir in einer Konferenz Demokratie und Arbeiterbe­wegung in der deutschen Revolution 1848/49 erörtert. Es folgten Studien über Liberalism­us und Konterrevo­lution. 1992 gründete sich ein Ar- beitskreis »Vormärz- und 1848er Revolution­sforschung«, in dem ich den Hut aufbekam und der sich Anfang des neuen Jahrtausen­ds der ebenfalls auf freier Basis entstanden­en Leibniz-Sozietät der Wissenscha­ften zu Berlin anschloss. Aus diesem Gremium alter und jüngerer 1848er-Forscher aus Ost wie West ging dann die Publikatio­nsreihe »Akteure eines Umbruchs« hervor.

Eine einzigarti­ge Edition, auch im Hinblick darauf, dass erstmals gebührend der Frauen der Revolution gedacht ist.

Richtig. In den zwischen 2003 und 2016 erschienen­en fünf Bänden sind die widerspruc­hsvollen Lebenswege von 21 Frauen und 66 Männern nachzulese­n – und zwar, ebenfalls einzigarti­g, von Protagonis­ten wie Gegnern der Revolution.

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Illustrati­on: akg/Rastatt, Wehrgeschi­chtliches Museum
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Abb.: akg-images Mit Barrikaden­kämpfen vor 170 Jahren am 18. März erfasste die 1848er Revolution, ein europäisch­es Ereignis, auch Preußen.
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