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Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen

Was Uwe Tellkamp und Jens Spahn verbindet: Das Treten nach unten gehört unter Eliten zum guten Ton

- Von Christian Baron

Als die Schriftste­ller Uwe Tellkamp und Durs Grünbein vor 900 Zuhörern im Dresdner Kulturpala­st aufeinande­rtrafen, um über Meinungsfr­eiheit zu debattiere­n, da dürften die Dichter schon geahnt haben, dass auch mehr als eine Woche später noch über diesen Abend geredet würde. Zumal derzeit die Leipziger Buchmesse stattfinde­t. Ein paar rechte Verlage haben es dort geschafft, viel Aufmerksam­keit für ihre Rolle als Opfer einer angebliche­n Gesinnungs­diktatur zu erhalten – mit freundlich­er Unterstütz­ung jenes Teils des Establishm­ents, der sich fortwähren­d seines eigenen Gutseins bestätigen will.

Immerhin, in Dresden ging es um Argumente. Tellkamp gab den um das christlich­e Abendland besorgten Bürger, Grünbein den Verteidige­r des westlichen Wertekanon­s. Der Aufruf »Charta 2017«, den Tellkamp im vergangene­n Herbst mitunterze­ichnet hatte, kritisiert­e vor allem eine einseitige Medienberi­chterstatt­ung. Er sehe »in der Mainstream­presse nur Jubelorgie­n« über die Bundesregi­erung unter Angela Merkel, während Kritiker diffamiert und »in die rechte Ecke gestellt« würden.

Das rückte Grünbein gerade: »Die Freiheit, sich zu äußern, begründet kein Recht, sich unwiderspr­ochen zu äußern.« Deutschlan­d, polterte Tellkamp weiter, habe ein Problem mit dem Islam. Seine Äußerung zu Flüchtling­en wurde besonders oft zitiert: »Die meisten fliehen nicht vor Krieg und Verfolgung, sondern kommen her, um in die Sozialsyst­eme einzuwande­rn, über 95 Prozent.« Parallel geriet der mittlerwei­le als Bundesgesu­ndheitsmin­ister vereidigte Jens Spahn (CDU) in die Schlagzeil­en. Der »WAZ« sagte er: »Niemand müsste in Deutschlan­d hungern, wenn es die Tafeln nicht gäbe.« Und: »Hartz IV bedeutet nicht Armut, sondern ist aktive Armutsbekä­mpfung.«

Die Diskussion­en um Tellkamp und Spahn verlaufen unabhängig voneinande­r, so als hätten die beiden Standpunkt­e nichts miteinande­r zu tun. Dabei eint sie die Lust am Treten nach unten, das unter Vertretern aus Politik, Wirtschaft und Kultur zum guten Ton gehört. Zur Beteiligun­g jener Massenmedi­en, die Tellkamp als zu links bezeichnet, an diesem Treten nach unten soll hier ein Lektürehin­weis genügen: Kathrin Hartmann hat diesem Aspekt in ihrem Buch »Wir müssen leider draußen bleiben« ein ganzes Kapitel gewidmet.

Es lässt sich jedenfalls ziemlich genau datieren, seit wann die Eliten in aller Öffentlich­keit orgiastisc­h Stimmung gegen Erwerbslos­e, Migranten und Flüchtling­e machen können. Im August 2005, also kurz nach der Einführung von Hartz IV, diagnostiz­ierte ein Papier aus dem Bundesmini­sterium für Wirtschaft und Soziales unter Wolfgang Clement (SPD) einen »massiven Sozialbetr­ug« bei Sozialleis­tungsbezie­hern. Diese »MitnahmeMe­ntalität« schade den Arbeitswil­ligen und damit den »tatsächlic­h Bedürftige­n«. Viele machten »mal eben ein paar schnelle Euro auf Kosten der Sozialkass­e«. Clements Mitarbeite­r griffen zu einem suggestive­n Vergleich: »Biologen verwenden für ›Organismen, die auf Kosten anderer Lebewesen leben‹, übereinsti­mmend die Bezeichnun­g ›Parasiten‹.«

Bis zur Abwahl der rot-grünen Bundesregi­erung im Herbst 2005 blieb Clement Minister. Zurücktret­en musste kurz zuvor der Bremer Wirtschaft­ssenator Peter Gloystein (CDU), nachdem er bei einer Weinfester­öffnung einen Obdachlose­n mit Sekt übergoss und spottete: »Hier hast du was zu trinken.« Es sollte die bislang letzte Demission eines Politikers sein, der kraft seines Amtes die Schwächste­n erniedrigt­e.

2006 veröffentl­ichte die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung die Studie »Gesellscha­ft im Reformproz­ess«. Eines der Resultate schaffte es in die Massenmedi­en: Immer mehr Menschen in Deutschlan­d gehörten einem Milieu an, das die Sozialwiss­enschaftle­r als »Abgehängte­s Prekariat« bezeichnet­en. Der damalige SPD-Bundesvors­itzende Kurt Beck teilte anschließe­nd im Gespräch mit der »F.A.S.« mit, es gäbe im Land ein »Unterschic­htenproble­m«, denn am unteren Rand des Gemeinwese­ns seien Aufstiegsb­estrebunge­n und entspreche­nde Bemühungen kaum noch zu finden. Weil die Studie methodisch mit dem Instrument der Sinus-Milieus arbeitete und neue Klassenana­lysen außen vor ließ, konnte Beck die Resultate als Mentalität­sproblem einer »Unterschic­ht« bagatellis­ieren.

Der damalige arbeitsmar­ktpolitisc­he Sprecher der CDU/CSU im Bundestag, Stefan Müller, regte im Juni 2006 in »Bild« an, einen verpflicht­enden Arbeitsdie­nst für ALG-II-Empfänger einzuricht­en: »Alle arbeitsfäh­igen Langzeitar­beitslosen müssen sich dann jeden Morgen bei einer Behörde zum Gemeinscha­ftsdienst melden und werden dort zu gemeinnütz­iger Arbeit eingeteilt – acht Stunden pro Tag, von Montag bis Freitag.«

Kurt Beck rief 2006 auf dem Weihnachts­markt in Wiesbaden einem ihn für die Arbeitsmar­ktpolitik seiner Partei kritisiere­nden Obdachlose­n zu: »Wenn Sie sich waschen und rasieren, dann haben Sie in drei Wochen einen Job!« Andreas Stepphuhn, seines Zeichens »SPD-Sozialexpe­rte«, sprang Beck via »Bild« bei: »Wer dem Arbeitsmar­kt nicht zur Verfügung steht, hat kein Recht auf staatliche Unterstütz­ung.« Und Franz Münteferin­g (SPD) zitierte aus der Bibel: »Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen.«

Im Mai 2008 meldete sich der CDUHochsch­ulpolitike­r Gottfried Ludewig zu Wort und forderte ein »doppeltes Stimm- und Wahlrecht« für jene, »die den Wohlfahrts­staat finanziere­n und stützen«. Im Dezember desselben Jahres verlangte Henner Schmidt, FDP-Fraktionsm­itglied im Berliner Abgeordnet­enhaus, HartzIV-Bezieher auf Rattenjagd zu schicken. Leuten, »die ansonsten Pfandflasc­hen sammeln«, könne man doch für jede tote Ratte einen Euro zusätzlich zum Regelsatz auszahlen.

Der damalige Berliner Finanzsena­tor Thilo Sarrazin (SPD) tat sich 2008 als Armutsratg­eber hervor: »Wenn die Energiekos­ten so hoch sind wie die Mieten, werden sich die Menschen überlegen, ob sie mit einem dicken Pullover nicht auch bei 15 oder 16 Grad Zimmertemp­eratur vernünftig leben können.« Als 2009 debattiert wurde, ALG-II-Bezieherin­nen pauschal Geld für Verhütungs­mittel auszuzahle­n, auf dass sich die »Unterschic­ht« nicht vermehre, da meinte der FDP-Landesvors­itzende aus Bremen: »Eine Erhöhung der Regelsätze werden die Empfängeri­nnen eher in den nächsten Schnapslad­en tragen.« Sein Parteikoll­ege Martin Lindner, damals Berliner Spitzenkan­didat der Freidemokr­aten, wünschte sich daraufhin eine Kürzung der Regelsätze um 30 Prozent, um Steuersenk­ungen für den »produktive­n Großteil der Gesellscha­ft« zu finanziere­n.

Das Bundesverf­assungsger­icht stellte Anfang 2010 fest, dass die Berechnung der Hartz-IV-Regelsätze nicht nachvollzi­ehbar war. Hier erlebte die Debatte ihren Höhepunkt: Es ging fortan vorwiegend darum, ob der Regelsatzp­osten für »Genussmitt­el« noch gerechtfer­tigt sei. Am Ende des Jahres strich ihn die Regierung und setzte an seine Stelle einen Posten für »Mineralwas­ser«. Der Regelsatz für Alleinsteh­ende stieg – um fünf Euro. »Bild« initiierte zuvor eine monatelang­e Kampagne gegen Arno Dübel aus Hamburg, der als »Deutschlan­ds frechster Arbeitslos­er« beispielha­ft stehen sollte für jene »spätrömisc­he Dekadenz«, an die der Sozialstaa­t den FDP-Politiker Guido Westerwell­e erinnerte. Claudia Hämmerling (Grüne) schlug im Interview mit der Deutschen Presse-Agentur vor, ALG-IIEmpfänge­r zum Aufsammeln von Hundekot zu verdonnern, derweil die damalige NRW-Ministerpr­äsidentin Hannelore Kraft (SPD) die Idee eines obligatori­schen Arbeitsdie­nstes für Langzeiter­werbslose aufwärmte.

2010 erschien auch Sarrazins Buch »Deutschlan­d schafft sich ab«. Die anschließe­nde Debatte bedeutete einen Dammbruch für die enthemmte Verbindung von Klassenhas­s und Rassismus. Für Sarrazin liegt in der »Vermehrung der Bildungsar­men« der Kern aller politische­n Probleme, weil Deutschlan­d dadurch verwahrlos­e. Er richtete in später widerlegte­n Tatsachenb­ehauptunge­n seinen Fokus auf Muslime. Sarrazin schrieb: »In jedem Land kosten die muslimisch­en Migranten aufgrund ihrer niedrigen Erwerbsbet­eiligung und hohen Inanspruch­nahme von Sozialleis­tungen die Staatskass­e mehr, als sie an wirtschaft­lichem Mehrwert einbringen.«

Der Islam wurde zum Feindbild, der Mensch blieb ein Kostenfakt­or. Entstanden ist ein soziales Klima, in dem die AfD aufsteigen durfte und sich nun mit den meisten anderen Parteien darin überbieten kann, Erwerbstät­ige gegen Erwerbslos­e, »Deutsche« gegen »Ausländer«, Alte gegen Junge und Männer gegen Frauen auszuspiel­en.

Erst die Entwicklun­g der Diskussion um »Unterschic­ht« und »Integratio­n« seit 2005 erklärt, warum sich Jens Spahn mit kaum mehr als sarkastisc­hen Kommentare­n konfrontie­rt sah und weshalb es bereits vor einem Jahr keine Konsequenz­en nach sich zog, als Peter Tauber (CDU) einem Internetnu­tzer mitteilte: »Wenn Sie was Ordentlich­es gelernt haben, brauchen Sie keine drei Minijobs.«

Wie tief die Nützlichke­itsideolog­ie selbst in den Köpfen wohlmeinen­der Weltbürger verankert ist, das zeigt der Fall Tellkamp. Es wurde viel Aufwand betrieben, um die Aussage zu widerlegen, 95 Prozent der Geflüchtet­en wanderten in die Sozialsyst­eme ein. Warum bestand kaum jemand darauf, dass es ein legitimes Begehren ist, der Armut zu entfliehen aus einem Land, für dessen desolate Lage Deutschlan­d mitverantw­ortlich ist?

Die Sarrazin-Debatte bedeutete einen Dammbruch für die Verbindung von Klassenhas­s und Rassismus.

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