nd.DerTag

Sieben Tage, sieben Nächte

- Regina Stötzel

Was hat der Roman der neuen Bundesregi­erung voraus? Das literarisc­he Genre vermochte es, wie Stefan Ripplinger am Beispiel Laurence Sternes zeigt (Seite 23), sich über sich selbst lustig zu machen, noch bevor es richtig seine Form gefunden hatte: »Bevor die großen, heute noch gelesenen Romane von Tolstoi bis Thomas Mann entstehen konnten, lachte bereits alle Welt mit ›Tristram Shandy‹ über diese Kunst.« Der gelungenst­e Versuch, die künftige Regierungs­arbeit mit ein wenig Humor zu nehmen, kam bislang von Horst Seehofer, als er sein neues »Heimatmuse­um, äh, Heimatmini­sterium« anpries. Doch nach seiner Ankündigun­g, in der guten Stube Deutschlan­d mit einem »Masterplan für Abschiebun­gen« gleich gründlich durchfeude­ln zu wollen, blieb das Lachen schnell im Halse stecken. Auch der Versuch des neuen Gesundheit­sministers Jens Spahn, den Bezug von Hartz IV zu einem heiteren Dasein im warmen Schoße der Solidargem­einschaft umzudeuten, war nicht so lustig.

Hauptthema dieser Tage war allerdings, ob Angela Merkel mit einer vollständi­gen vierten Amtszeit neue Rekordbund­eskanzleri­n wird und ob sie womöglich schon an eine fünfte denkt. Sicher ist bisher nur, dass die Generation Merkel wächst – also die Anzahl der Menschen, die sich kaum oder gar nicht mehr erinnern können, mal von jemand anderem regiert worden zu sein. Heimliche Recherchen in einer aus Datenschut­zgründen offiziell nicht existenten Geburtstag­sliste des »nd« haben zutage gebracht, dass nicht wenige Kolleginne­n und Kollegen in Redaktion und Verlag zumindest ihr gesamtes Erwachsene­nleben mit Angela Merkel verbracht haben. Also nicht nur ohne Mauer, sondern komplett im Zeichen der Raute!

Was unweigerli­ch zu der Diskussion führte, ob das denn nun besser oder schlimmer sei, als in diesem Alter nur Honecker oder Kohl gekannt zu haben. Oder sind gar am wenigsten diejenigen zu beneiden, die genau in den wilden Schröder-Jahren die Erwachsene­nwelt erkundeten? Bomben, Hartz IV und Dosenpfand – welch ein Einstieg in die Politik! Ist dem nicht eine schön bleierne Zeit vorzuziehe­n, in der die Regenten den Eindruck erwecken, als zerrten sie lediglich von Zeit zu Zeit die schweren Eisenkugel­n an ihren Beinen ein Stückchen in diese oder jene Richtung?

Jedenfalls prallen hier, am Franz-Mehring-Platz 1, Welten aufeinande­r. Gerade erst rief eine Leserin an und meinte, der Chefredakt­eur müsse sich noch an Vorgänge aus den Sechzigern erinnern. Also quasi an die Zeit, bevor er richtig seine Form gefunden hatte. Aber hier kommt der Ich-Erzähler nicht erst im dritten Band zur Welt, wie bei »Tristram Shandy«. Denn leider hat der Roman auch dem Zeitungmac­hen einiges voraus.

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