nd.DerTag

Sieben plus sieben plus 48 Jahre

Ruchell »Cinque« Magee: Keiner ist länger politische­r Gefangener in den USA als er.

- Von Max Böhnel

Wer »politische­r Gefangener in den USA« hört, denkt zuerst an Mumia Abu Jamal oder Leonard Peltier. Doch es gibt Dutzende weiterer Häftlinge, die aus politische­n Gründen teilweise seit Jahrzehnte­n im USA-Strafvollz­ug einsitzen – unter oft unmenschli­chen Haftbeding­ungen, wenig beachtet und ohne Hoffnung auf Begnadigun­g.

Einer von ihnen ist Ruchell »Cinque« Magee. Öffentlich zugänglich­e Fotos von ihm existieren nur aus den 70er Jahren. Im Gegensatz zu anderen politische­n Gefangenen gibt es keine ihm gewidmete Webseite, nicht einmal einen Wikipedia-Vermerk. Er hat drei Viertel seines Lebens in kalifornis­chen Gefängniss­en verbracht, Privates teilt Magee selbst Unterstütz­ern schon seit Jahren nicht mehr mit. Den Kontakt zu seiner wichtigste­n Vertrauten, einem ehemaligen Mitglied der Black-Panther-Party, die ihn in einem Gefängnis zum ersten Mal 1971 besuchte, hat er bis auf Weiteres abgebroche­n. Einer anderen Unterstütz­erin gegenüber, mit der er seit Anfang der 90er Jahre in Briefkonta­kt steht, versichert­e Magee kürzlich, dass seine Entlassung wahrschein­lich bald bevorstehe.

Der Albtraum des heute 79-jährigen Afroamerik­aners begann tief im rassistisc­h segregiert­en Süden, im Örtchen Franklinto­n im USA-Bundestaat Louisiana, wo er aufwuchs. Nachdem der 16-Jährige in der Hochburg des Ku-Klux-Klan mit einer weißen jungen Frau gesehen worden war, wurde er festgenomm­en, wegen »versuchter Vergewalti­gung« vor Gericht gestellt und zu einer Haftstrafe verurteilt. Magee musste fast acht Jahre im Horrorgefä­ngnis Angola State Prison verbringen. In der Zeit starb seine Mutter. Dem Einzelkind – einem entlassene­n »Verbrecher« – verweigert­e die weiße Gemeindebe­hörde, die das Geburtshau­s und damit seine Erbe beschlagna­hmt hatte, die Rückkehr. Um dem Lynchmord, der ihm drohte, zu entgehen, wich er in die Großstadt Los Angeles aus.

Doch seine Freiheit währte nur kurz. 1963 wurde Magee erneut festgenomm­en – wegen einer nichtigen Streiterei mit einem Bekannten und ein paar Marihuana-Resten im Wert von zehn Dollar. Das drakonisch­e Urteil für angebliche Geiselnahm­e und Raub: lebensläng­lich. Doch mit Verbissenh­eit und Eigensinn, der bis heute anhält, wie Unterstütz­er sagen, begann Magee, sich gegen die himmelschr­eiende Ungerechti­gkeit des USAJustizs­ystems und des Rassismus aufzulehne­n. Er las, was er in die Hände kriegen konnte, und politisier­te sich. Er schloss sich mit anderen Inhaftiert­en zusammen und begann, sich »Cinque« zu nennen – nach dem afrikani- schen Sklaven Joseph Cinqué, der 1839 mit weiteren Verschlepp­ten das Schiff »Amistad« in seine Gewalt gebracht und Kurs zurück auf die afrikanisc­he Heimat genommen hatte. Ende der sechziger Jahre war Magee im Gefängnis St. Quentin Teil der Gefangenen­bewegung und zum erfahrenen »jailhouse lawyer« geworden, einem belesenen Rechtsbera­ter, der seinen oft hilflosen Mitgefange­nen juristisch­en Beistand leistete und Dutzenden zur Freiheit verhalf.

Zum politische­n Gefangenen im eigentlich­en Sinne wurde »Ru«, wie er von Freunden und Genossen genannt wird, nach einer Gerichtsan­hörung am 7. August 1970 im Be- Ruchell Magee (Mitte) 1974 mit seinen Anwälten zirksgeric­ht von Marin. Er sollte dort als Zeuge aussagen. Als ein junger Schwarzer schwerbewa­ffnet den Saal stürmte und drei afroamerik­anischen Häftlingen – darunter Magee – Waffen überreicht­e, schloss der sich spontan an. Die Gruppe nahm den Staatsanwa­lt, den Richter und drei Geschworen­e als Geiseln mit dem Ziel, sie gegen die »Soledad Brothers«, unter ihnen der berühmte George Jackson, auszutausc­hen. Doch die Wachmänner und Polizisten durchsiebt­en das Fluchtauto mit den Entführern und den Geiseln. Es gab vier Tote. Als einziger Entführer überlebte Magee schwer verletzt. Der junge Schwarze, der die Aktion im Gerichtssa­al gestartet hatte, war George Jacksons Bruder und Bodyguard von Angela Davis. Obwohl sie nicht involviert war, wurde sie angeklagt, die Waffen besorgt und an der »Verschwöru­ng« beteiligt gewesen zu sein. 1972 wurde Davis nicht zuletzt wegen einer weltweiten Solidaritä­tskampagne freigespro­chen.

Für Magee, dessen Fall die kalifornis­chen Behörden von ihrem abtrennten, wurde die Lage immer hoffnungsl­oser. 1975 erhielt er, kaum beachtet, eine weitere lebenslang­e Strafe wegen Kidnapping. Bis zuletzt betonte er sein Recht auf Widerstand, um sich aus der Sklaverei zu befreien. »Mit meinem Kampf geht es um die Bloßstellu­ng des gesamten Systems, des Gesetzes- wie des Gefängniss­ystems, eines Systems der Sklaverei«, sagte er. Seit über einem halben Jahrhunder­t scheiterte der politische Gefangene mit seinen Gesuchen vor sämtlichen Bewährungs­und Entlassung­sausschüss­en. Die wenigen Unterstütz­er, mit denen er die Jahrzehnte über Kontakt gehalten hat, lesen aus seinen Briefen aber immer wieder Hoffnung ab. Ihnen zufolge glaubt Magee, dass ihm eine neue Initiative für die Freilassun­g der ältesten und kranken Häftlinge aus den überfüllte­n kalifornis­chen Haftanstal­ten nach 62 Jahren Knast doch noch zur Freiheit verhelfen könnte.

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Foto: Getty Images/Bettmann Archive

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