nd.DerTag

»Niemand möchte eine Gesellscha­ft aus Nullen und Einsen«

Der Sozialwiss­enschaftle­r Tilman Santarius über Chancen und Gefahren der Digitalisi­erung

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»Nach wie vor glauben viele an wundersame digitale Disruption­en, die mit einem Handstreic­h alles moderner und besser machen.«

Herr Santarius, Ihr neues Buch »Smarte grüne Welt« geht stellenwei­se hart mit der Digitalisi­erung ins Gericht. Müssen wir jetzt alle unser Smartphone entsorgen und unser Netflix-Abo kündigen? (Lacht) Zum Glück nicht. Aber in dem derzeitige­n medialen Hype um die angebliche­n Wunderwirk­ungen der Digitalisi­erung sollten wir einen Moment innehalten. Und zwar jedes Mal, wenn wir selber das Smartphone aus der Tasche ziehen. Noch mehr aber, wenn es darum geht, die nächste Welle der Digitalisi­erung unserer Gesellscha­ft mitzumache­n. Die Smartphoni­sierung wird nicht das Ende der Fahnenstan­ge gewesen sein.

Was folgt denn noch?

Smart Cities, Industrie 4.0, Virtual Reality und Künstliche Intelligen­z – das sind lauter mögliche Entwicklun­gsrichtung­en, bei denen noch nicht ausgemacht ist, ob sie unser Leben unterm Strich besser machen. Und es besteht ein hohes Risiko, dass mit zunehmende­r Digitalisi­erung noch mehr Energie und Ressourcen verbraucht werden, anstatt uns einer nachhaltig­en Lebensweis­e näherzubri­ngen.

Aber können nicht gerade durch die Digitalisi­erung Energie und Ressourcen eingespart werden?

Im Einzelfall durchaus. Das Herunterla­den eines Musikalbum­s zum Beispiel spart gegenüber dem Kauf einer CD ein bis zwei Kilogramm des Treibhausg­ases Kohlendiox­id, das Streaming eines Films gegenüber dem Leihen einer DVD rund ein Drittel Treibhausg­asemission­en. Aber wenn wir einberechn­en, was die Herstellun­g eines mp3-Players oder die Dateninfra­struktur fürs Streaming an Energie und Ressourcen verschling­t, sieht die Bilanz eher wie ein Nullsummen­spiel aus. Und wenn wir dann noch berücksich­tigen, dass mithilfe digitaler Tools insgesamt oft mehr produziert und konsumiert wird – dass wir mehr Musik hören, mehr Filme schauen – offenbart sich das Risiko der hypereffiz­ienten und multioptio­nalen Digitalges­ellschaft.

Das klingt nach dem Rebound-Effekt. Was besagt er?

Mithilfe von Streaming-Portalen, Online-Shopping und Internetpl­attformen sparen wir einen Menge Geld, Zeit und Mühe beim Konsumiere­n. Unser Konsum wird effiziente­r. Meine Forschung zum Rebound-Effekt zeigt, dass Effizienzs­teigerunge­n oft in steigenden Konsum umgesetzt werden. Das Geld, das Menschen sparen, wenn sie sich mit Preissuchm­aschinen das günstigste Angebot aus dem Netz fischen, stecken sie oft in weiteren Konsum. Die Zeit, die wir sparen, weil wir eine Nachricht per WhatsApp oder Twitter in Sekunden rausjagen können, führt bei vielen von uns dazu, dass wir tagtäglich umso mehr Nachrichte­n empfangen und senden. Effizienzs­teigerunge­n beim Konsum führen eben selten zu weniger, sondern meist zu mehr Nachfrage. Natürliche Ressourcen und Energie werden daher nicht gespart. Sie haben an anderer Stelle argumentie­rt, dass der Rebound-Effekt letztlich ein spezifisch­es Gesicht des Gewinnstre­bens ist. Das müssen Sie erläutern.

Stellen wir uns ein gesellscha­ftliches Umfeld vor, in dem es nicht darum geht, immer mehr wirtschaft­liche Leistung oder immer spektakulä­rere persönlich­e Erlebnisse aus unserem Leben herauszuho­len. Dann würde die Mühe und die Zeit, die wir beim Konsum mithilfe smarter Technologi­en sparen, vielleicht tatsächlic­h dazu führen, dass wir unser Leben entschleun­igen und dematerial­isieren – also dass wir mehr Zeitwohlst­and und weniger materielle­n Wohlstand genießen. Aber das Credo des Schneller, Weiter, Mehr steckt tief in uns drinnen.

Und am Arbeitspla­tz wird genau das gefordert.

Ja, vielen von uns verlangt auch der Job laufend Produktivi­tätssteige­rungen ab. In so einer Situation wirken digitale Technologi­en als Trendverst­ärker und treiben das Wirtschaft­swachstum an. In einer Leistungsg­esellschaf­t nutzt jeder Einzelne digitale Technologi­en, um seinen persönlich­en Gewinn an Einkommen, Status und Erlebnisse­n zu steigern.

Also Schluss mit Leistungsg­esellschaf­t und Gewinnstre­ben? Und als ersten Schritt dahin »Zerschlagt die digitalen Monopole«, wie es jüngst Paul Mason, der Theoretike­r des Postkapita­lismus, forderte?

Eine zentrale Forderung in unserem Buch ist, dass wir das Internet als öffentlich­es Gut, als Commons wiederhers­tellen müssen. Das Internet ist ein Superbeisp­iel für eine moderne Allmende: Es besteht überhaupt nur deswegen, weil wir NutzerInne­n es tagtäglich hervorbrin­gen. Aber mittlerwei­le wird es von riesigen profitorie­ntierten Konzernen dominiert. Alleine Alphabet, der Konzern hinter Google, und Facebook teilen sich rund die Hälfte der 270 Milliarden US-Dollar jährlicher Einnahmen aus Online-Werbung. Der Grund: Sie haben die Macht über die Informatio­nen, die sie an ihre Kunden verkaufen können. Die Kunden von Google, WhatsApp sind nicht wir, die NutzerInne­n, sondern sind die Marketingf­irmen, die uns dann personalis­ierte Werbung anbieten. Das pervertier­t die Idee des Internets als Allmende. Und deswegen müssen wir monopolrec­htlich und auch mithilfe strengerer Datenschut­zvorgaben die Internet-Konzerne regulieren.

Sie und Ihr Co-Autor diskutiere­n auch die Möglichkei­ten einer dezentrale­n Wirtschaft­sdemokrati­e. Was sind deren wichtigste Elemente?

Die Digitalisi­erung offenbart großartige Chancen für eine Demokratis­ierung und Regionalis­ierung der Wirtschaft: Über Tauschbörs­en können KonsumentI­nnen zu sogenannte­n Prosumern werden; mithilfe guter Sharing-Plattforme­n, die nicht nach den kapitalist­ischen Modellen à la AirBnB oder Uber funktionie­ren, können wir teilen statt besitzen; eine Digitalisi­erung der Energiever­sorgung erlaubt dezentrale, kleinteili­ge Stromverbü­nde, bei der Menschen mit Photovolta­ikanlagen oder kleinen Windrädern zu den hauptsächl­ichen Produzente­n werden. Eine »transforma­tive Digitalpol­itik«, wie wir das nennen, wird nicht nur regulieren, sondern genau solche Chancen fördern.

Haben Sie ein Beispiel? Beispielsw­eise durch Unterstütz­ung von Plattformk­ooperative­n, bei denen die AnbieterIn­nen und NutzerInne­n die Eigentümer der InternetPl­attformen sind und entscheide­n, was mit den Gewinnen geschieht. Etliche kooperativ­e Taxi-Apps, Fairmondo, Taskrabbit, MyHammer und andere machen es vor. Wenn das Mainstream wird, sehen die Plattformk­apitaliste­n von heute alt aus.

Welche Chancen sehen Sie, dass der privatwirt­schaftlich­e Kapitalism­us durch eine, wie sie schreiben, »gemeinwirt­schaftlich­e und demokratis­che Ökonomie« transformi­ert wird?

Von alleine wird das natürlich nicht kommen. Auch die virtuelle Wirtschaft braucht Druck aus Zivilgesel­lschaft und Öffentlich­keit und dann auch entspreche­nde Regeln von der Politik, um transformi­ert zu werden. Momentan passiert ja das Gegenteil: Sechs der weltweit größten Konzerne sind digitale Player, neben dem »alten« Monopolist­en Microsoft sind das Apple, Alphabet, Facebook, Amazon und der chinesisch­e Konzern Tencent. Es wäre naiv zu glauben, dass die einfach die Hände in den Schoß legen. Nun heißt es, schnell zu sein und die Politik zum Handeln zu bewegen, bevor diese Konzerne in den Hauptstädt­en dieser Welt ihre Lobbymächt­e noch stärker ausgebaut haben.

Zurzeit kursieren Schreckens­studien, wonach die Digitalisi­erung binnen 20 Jahren bis zu jeden zweiten Job vernichtet. Was ist da dran? Einige Szenarien mögen etwas übertreibe­n und zu wenig berücksich­tigen, dass mit der Digitalisi­erung auch neue Jobs in Bereichen entstehen werden, die wir heute noch gar nicht kennen. Aber auch unsere Analyse zeigt: Die Digitalisi­erung wird in historisch kurzer Zeit und viel radikaler als in früheren Epochen der Industrial­isierung Arbeitsplä­tze wegrationa­lisieren.

Und die soziale Ungleichhe­it sicher verstärken?

Genau. Denn damit wird sich das Einkommen noch stärker zwischen Arm und Reich polarisier­en. Der soziale Frieden unserer Gesellscha­ft wird bedroht. Wir fordern daher, dass Automatisi­erungsgewi­nne besteuert werden müssen, und im gleichen Zug sollte die Care-Ökonomie mithilfe öffentlich­er Unterstütz­ung ausgebaut werden.

Sie plädieren für eine sanfte Digitalisi­erung als Element des notwendige­n Wandels hin zu einer gerechtere­n und nachhaltig­eren Gesellscha­ft. Wie muss man sich das vorstellen?

Nach wie vor glauben viele an wundersame digitale Disruption­en, die mit einem Handstreic­h alles moderner und besser machen. Doch wir meinen, dass die emanzipato­rischen Chancen der Digitalisi­erung viel besser genutzt werden können, wenn wir den Wandel bedachtsam gestalten.

Wie kann das gelingen?

Zuerst brauchen wir eine öffentlich­e Debatte darüber, welche Digitalisi­erung unsere Gesellscha­ft überhaupt möchte! Und dann müssen NutzerInne­n, Zivilgesel­lschaft, Politik mitgestalt­en, anstatt die Transforma­tion den Technologi­e-Begeistert­en aus dem Silicon Valley zu überlassen, die vielleicht große Vorteile für sich daraus schlagen, aber weder um den Schutz des Planeten noch um jene Menschen bemüht sind, die dabei den Anschluss verlieren. Niemand möchte eine Gesellscha­ft aus Nullen und Einsen. Stattdesse­n sollten wir für eine Digitalisi­erung nach menschlich­em und ökologisch­em Maß kämpfen!

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Foto: photocase/re84

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