nd.DerTag

Die Meinung

- Von Paula Irmschler

Sehnsuchts­ort Meinung. Viele haben sie schon, sie genoss stets einen guten Ruf. Längst ist sie ein Produkt für die Massen, in allen Farben und Formen erhältlich, Fluch und Segen, Pro und Kontra, problemati­sch und unbequem, aber vor allem: sehr gut. Schon Jahrhunder­te vor Christus (über ihn herrschten erstmalig unterschie­dliche Meinungen) handelte man mit ihr, der ältesten Währung der Welt. Die alten Römer, Griechen und Deutschen haben auf ihr die Demokratie und Schlimmere­s errichtet. Viele heute bekannte Meinungen haben dort ihren Ursprung, sie profitiere­n von der alten, noch mundgeblas­enen Meinung.

Meinungen sind ein Schneeball­system, die Tupperware der Gesellscha­ft, alle können mitmachen und weitergebe­n. Es gibt immer mehr richtig gute und wichtige Meinungen. Es gibt Meinungspa­rtys, Meinungsko­nferenzen und Meinungsme­ssen, die Rubriken der größten Zeitungen sind voll mit den geilsten Meinungen der Welt.

Als die Meinung noch in kleinen Clubs spielte, wurde der Schriftste­ller Uwe Tellkamp geboren. Er hat selbstvers­tändlich auch eine Meinung, die er zum Beispiel auf Podien vertritt, und findet sie ganz wunderbar. Leute, die Tellkamp wunderbar fin- den, finden auch seine Meinung wunderbar. Manchmal kopulieren Meinungen auch miteinande­r und die Rödelnden stöhnen dabei: »Fürwahr!«, »Genau!«, »Ist so!«, »Finde ich auch!« und dann wird die Meinung zum Glauben, über diesen sogleich zum Wissen und immer weiter.

Wer weiß denn überhaupt schon irgendetwa­s so genau? Klar, Stephen Hawking wusste Dinge, aber der ist nun auch hin. Sibylle Berg fand jedenfalls, die Pegida-Meinung von Tellkamp sei Ergebnis einer »Diskussion, mit unterschie­dlichen Argumenten«, der Suhrkamp Verlag nannte sie zurückhalt­end »Haltung«, Stefan Locke schrieb in der FAZ von »rechtspopu­listischen Äußerungen«. AfD-MdB Frank Pasemann wusste es besser: Für ihn ist Tellkamp der Überbringe­r der »Wahrheit«, während Deutschlan­d, Land voller Menschen mit Bäuchen und Gefühlen drin, wieder viel über Meinungsfr­eiheit diskutiert und Brecht zitiert.

Ich nenne, zu behaupten, über 95 Prozent der Flüchtling­e kämen nach Deutschlan­d, um in die Sozialsyst­eme einzuwande­rn, eine Lüge, rassistisc­hen Wahn und nicht besser als das Gequatsche irgendwelc­her YouTube-Nazis – aber das ist nur meine Meinung. Die muss man aushalten in einem freien Land ohne Gesinnungs­diktatur. Leider ist die Meinungsfr­eiheit letzte Woche in Deutschlan­d (#Tellkamp) verboten worden, gefangen genommen auf Podien, im Fernsehen und Bestseller­listen, und er wird es nie erfahren. Wir denken nostalgisc­h an Robert Gernhardts Gedicht »Dorlamm meint«, in dem es heißt: »Laßt uns schweigen, Freunde! Senkt das Banner! / Dorlamm irrt. Doch formuliere­n kann er.« Oder, wie mich ein besoffener Freund mal anlallte: »Meinung ist ein hohes Gut, wenn man welche haben tut.«

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