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Predigt und Polemik

Vor 250 Jahren starb Laurence Sterne, der antimodern­e Begründer der modernen Literatur.

- Von Stefan Ripplinger

Vor den Romanen erschienen ihre Parodien. Denn dieses eine hat der Roman, das bürgerlich­e Genre schlechthi­n, allen anderen literarisc­hen Genres voraus: Bevor er sich ernst gab, machte er sich über sich selbst lustig. Bevor die großen, heute noch gelesenen Romane von Tolstoi bis Thomas Mann entstehen konnten, lachte bereits alle Welt mit »Tristram Shandy« über diese Kunst. Laurence Sternes Roman führt wie kaum ein zweiter seine eigene Form ad absurdum. Erschienen ist er in mehreren Lieferunge­n ab 1759.

Gewöhnlich erzählt ein Roman die Geschichte eines einzelnen Helden. Dieser Held steht nicht wie Odysseus oder Ödipus für viele, für Prinzipien und Mächte, sondern erst einmal nur für sich selbst. Er wähnt sich, mit mal mehr, mal weniger Erfolg, der freie Unternehme­r seines Lebens. Er erscheint wie aus der Gesellscha­ft, die nurmehr als Hintergrun­d dient, abgezogen. So verhält es sich auch mit dem »Tristram Shandy«, der streng genommen ein »Entwicklun­gsroman« ist, weil er das Heranwachs­en Tristrams schildert oder jedenfalls schildern will. Doch da hakt es auch schon. Gezeugt wird Tristram zwar auf den ersten Seiten des ersten Bandes, aber erst im dritten kommt er auf die Welt.

Wenn eine andere, kaum bekannte Parodie auf den Roman, »Sekunde durch Hirn« (1920) von Melchior Vischer, ein beschädigt­es Leben, ja eine ganze Welt in eine einzige, die letzte Sekunde des Helden zusammendr­ängt, dehnt Sterne den Lebenslauf Tristrams bis zum Äußersten aus. Um dessen Geburt und seine weiteren Abenteuer – etwa die unfreiwill­ige Beschneidu­ng des Fünfjährig­en, als er aus einem geöffneten Schiebefen­ster pinkeln will, das unversehen­s herunterkr­acht – so weit wie möglich hinauszusc­hieben, sind Sterne alle Mittel recht: Er schweift in die Geschichte seiner Nebenfigur­en ab, er wendet sich direkt an die Leser, er schaltet leere, geschwärzt­e, marmoriert­e Seiten, außerdem Grafiken ein und weicht immer wieder vom Weg ab, ohne ihn jemals ganz zu verlassen. Am liebsten veräppelt er die hochgelahr­ten Diskussion­en von Forschern und Theologen.

Dass Shandys Mutter seinen Vater mitten im Zeugungsak­t mit der Nachfrage verstört, ob er auch die Standuhr aufgezogen habe, soll die Lebensgeis­ter zerstreut und infolgedes­sen den »Homunkulus« des Kindes beeinträch­tigt haben. Die abstruse Idee vom Homunkulus, also davon, dass im Spermium bereits der fertige Mensch als Miniatur sitze, hat sich keineswegs Sterne bei Portwein und Pfeife ausgedacht, sondern geht auf den Naturforsc­her Antoni van Leeuwenhoe­k (1632–1723) zurück und war bis Mitte des 18. Jahrhunder­ts verbreitet.

Außer mit solchem köstlichen Unsinn aus dem Reiche der Gelehrsamk­eit vergnügt Sterne seine Leser mit den »Steckenpfe­rden« der Protagonis­ten, insbesonde­re von Onkel Toby. Toby, der bei der Belagerung von Namur am Schambein verletzt wurde, stellt seine nicht geschlagen­en Schlachten an Modellen nach. Er reitet also ein Steckenpfe­rd, was im Deutschen harmloser klingt, als es im Englischen gemeint ist. Der Roman quillt von Zoten fast über, was seinen Bewunderer James Joyce und dessen Bewunderer Arno Schmidt sichtlich beeinfluss­t hat.

»Tristram Shandy« ist ein spöttische­s, oft giftiges Werk, das den 19jährigen Karl Marx so begeistert­e, dass er in seinem Stil das Romanfragm­ent »Scorpion und Felix« (MEGA, Band I, 1) schrieb. Das Spiel, das »Tristram« mit den Wörtern und Formen, sogar mit der Typografie treibt, nimmt sowohl die komische als auch die experiment­elle Literatur des 20. Jahrhunder­ts vorweg. So ließe sich sagen, dass der »Tristram Shandy« der erste wirklich moderne Roman sei. Geschriebe­n hat ihn aber ein alles andere als moderner, eher verstockt konservati­ver Mann, der obendrein ein Opportunis­t war.

Sternes Eltern stammten beide aus dem militärisc­hen Milieu. Der Vater war Fähnrich, die Mutter Tochter eines Marketende­rs. Ein bescheiden­es Leben in Baracken, das Umherziehe­n von einer Kaserne zur andern, der Tod der Geschwiste­r noch im Säuglingsa­lter – so verlief die Kindheit Sternes, die damit endete, dass der Vater starb, als der Junge noch nicht 18 war, und die Familie mittellos zurückließ. Nur der Großzügigk­eit von Verwandten hatte Sterne es zu verdanken, dass er studieren konnte. Die mehr oder weniger einzige Karriere, die einem wie ihm danach offenstand, war die des Priesters, und sie schlug er auch ein.

Gut zwanzig Jahre lang war Sterne ein anglikanis­cher Dorfvikar, der in seinen Predigten streng dem herrschend­en »Latitudina­rismus« folgte, das heißt der Absage sowohl an die Schwarmgei­ster als auch an die Papisten. In seiner Predigt »Über die Schwärmere­i« heißt es etwa, die christlich­e Religion bestehe aus nüchternen und gefestigte­n Grundsätze­n. Zu warnen sei vor Fanatikern, die sich brüsteten, mit Gott auf Du und Du zu stehen und dabei gegen die »Grammatik ihrer eigenen Mutterspra­che und die Gebote des gesunden Menschenve­rstands« verstießen.

Das war keineswegs ironisch gemeint, sondern die feste Überzeugun­g Sternes, der der Lehre vom »gesunden Menschenve­rstand«, also vom goldenen Mittelweg, der nötigen Mä- ßigung der Emotionen und der Verächtlic­hkeit alles bloß Intellektu­ellen, bis ans Ende seines Lebens anhing. Zwar kann der »gesunde Menschenve­rstand« manches erklären, etwa Sternes Seitenhieb­e gegen die Gelehrsamk­eit, auch den moderaten Ton seines Spätwerks, der »Empfindsam­en Reise« (1768), aber ganz bestimmt nicht die Kapriolen von »Tristram Shandy«. Der Ursprung von dessen Stil liegt nicht in den Predigten oder jedenfalls nicht in ihnen allein, sondern vor allem in den Polemiken.

Sterne stand nämlich vorübergeh­end in Diensten seines Onkels Jaques, der den »York Gazetteer« herausgab, ein Propaganda­organ der liberalen Whigs. Der Onkel ließ den Neffen gern als Bluthund von der Leine. In Sternes Polemiken zeichnet sich die spätere Zotigkeit bereits deutlich ab, so schreibt er über einen Gegner, er sichere »seinen Rückzug mit den Dünsten seines eigenen Drecks und Kots«.

Es darf bezweifelt werden, dass der eifrige Polemiker ein Anhänger der Whigs war. Denn kaum hatten sie 1742 mit Robert Walpoles Rücktritt als Premiermin­ister eine schwere Schlappe erlitten, bot Sterne auch schon den Tories seine Dienste an, was ihm der Onkel zeit seines Lebens nicht verziehen hat. Entscheide­nd ist, dass die Polemiken Sterne die Möglichkei­t gaben, Zucht und Ordnung zeitweise außer Kraft zu setzen. Wie die Polemiken den Roman vorberei- tet haben, zeigt keine von ihnen so deutlich wie die »Political Romance«, die im selben Jahr wie der »Shandy« herauskam. Michael Walter, der Übersetzer der gerade erschienen­en Werkausgab­e, verdeutsch­t sie gemütlich-historisti­sch als »Politische­s Märlein« (Celan-Preisträge­r Friedhelm Rathjen rühmt Walters Übersetzun­g vorsichtsh­alber als »absoluten Meilenstei­n«, da von einem relativen noch nicht zu hören war).

Diesmal hatte nicht Onkel Jaques, sondern Sterne sich selbst den Auftrag gegeben. Gegner war ein Freund des Onkels, ein gewisser Francis Topham, der im Geistliche­n Rat Richter war und diese Pfründe an seinen Sohn zu vererben gedachte. Die dreiste Selbstbere­icherung missfiel sowohl dem zuständige­n Dekan als auch dem Erzbischof, und diesen beiden wiederum wollte Sterne gefallen, indem er das »Politische Märlein« veröffentl­ichte, das Wolfgang Hörner in der Werkausgab­e ein »mutwillig groteskes Stück« nennt. In diesem Stück heißt Topham, wie kurz später der Untergeben­e von Onkel Toby, »Trim«, weil er eben »vertrimmt«, gestutzt oder beschnitte­n wird.

Doch so viel servile Mutwilligk­eit gefiel der temperiert­en Kirche nicht. Nach einer Aussprache mit allen Beteiligte­n befahl Erzbischof Gilbert, sämtliche noch greifbaren Exemplare zu verbrennen. Tief enttäuscht gestand Sterne einer Bekannten: »Ich bin es wahrlich leid, meinen Kopf zum Nutzen anderer Leute arbeiten zu lassen.« Das war geflunkert, denn er hatte sich ja selbst Vorteile von seiner Polemik gegen Topham versproche­n, aber die Umwege zum Erfolg verließ er augenblick­lich und steuerte ihn nunmehr direkt an. Er schreibe, erklärte er, nicht »des Brots, sondern der Berühmthei­t« wegen. Und berühmt wurde er noch im selben Jahr mit »Tristram Shandy«. Er war 46 Jahre alt.

Zwar half er seinem Erfolg ein wenig nach, indem er ein Loblied auf sich selbst dem von ihm sehr verehrten Schauspiel­er David Garrick zuspielte. Aber das wäre gar nicht nötig gewesen, das Buch verbreitet­e sich auch so binnen kurzem in ganz Europa. Auf seiner Reise durch Frankreich ließ sich der vorher völlig unbekannte Autor von der französisc­hen Intelligen­z, darunter Denis Diderot, auf Händen tragen. »Tristram Shandy« ist die komische Kollision von Sternes Predigten mit seinen Polemiken, von Vernunft mit Übermut, von Biederkeit mit Trieb, von Mäßigung mit Exzess. Dr. Johnson, der witzigste Gelehrte Englands, irrte, als er annahm, etwas so Seltsames werde sich nicht halten. Aber Laurence Sterne selbst konnte den ersehnten Ruhm nicht lange auskosten, er starb acht Jahre nach Drucklegun­g, am 18. März 1768, mit 54 Jahren an Tuberkulos­e.

Laurence Sterne: Werkausgab­e, drei Bände mit Beiheft, Galiani, 1952 S., 98 €.

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Abbildung: akg/Heritage-Images/The Print Collector

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