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Wie das Gymnasium sich abschottet

Was Sonderpäda­gogik und Bildungspo­litiker verschweig­en – eine Streitschr­ift pro Inklusion.

- Von Brigitte Schumann

Der Pilotversu­ch »Gemeinscha­ftsschule Berlin« hat die Überlegenh­eit von unselektie­rten heterogene­n Lerngruppe­n der Berliner Gemeinscha­ftsschulen gegenüber vergleichb­aren Lerngruppe­n des gegliedert­en Systems aus Hamburg bezogen auf Leistung und Chancengle­ichheit eindrucksv­oll gezeigt. Geradezu sensatione­ll für deutsche Schulverhä­ltnisse liest sich als ein Ergebnis des wissenscha­ftlichen Abschlussb­erichts: »Die Gemeinscha­ftsschulen erreichen eines ihrer wesentlich­en Ziele, nämlich die Trennung von Lernerfolg und sozialer Herkunft.«

Trotz wissenscha­ftlicher Erkenntnis­se, dass Chancengle­ichheit im gegliedert­en Schulsyste­m nicht erreicht werden kann und Lernen in leistungsh­eterogenen Gruppen nicht mit Leistungse­inbuße erkauft werden muss, fehlt der politische Wille zu einer transforma­tiven Strukturre­form. Um es einer bildungsaf­finen Ober- und Mittelschi­cht recht zu machen, hält die Bildungspo­litik am Status quo eines gegliedert­en Sekundarsc­hulsystems fest, obwohl sie mit den Strukturen der Ungleichhe­it weder ihre grundgeset­zlichen noch menschenre­chtlichen Verpflicht­ungen einlösen kann.

Vor der Landtagswa­hl in NRW haben die Landeselte­rnschaft der Gymnasien in Nordrhein-Westfalen, der Philologen­verband Nordrhein-Westfalen sowie die Rheinische und Westfälisc­h-Lippische Direktoren­konferenz in einem gemeinsame­n Positionsp­apier unmissvers­tändlich gefordert: »Gymnasien dürfen nicht gezwungen werden, zieldiffer­ente Inklusion anzubieten. An Gymnasien kann Inklusion für alle Kinder durchgefüh­rt werden, die im zielgleich­en gymnasiale­n Bildungsga­ng richtig aufgehoben sind.« Begründet wird diese Sonderstel­lung damit, dass das Gymnasium als »soziale Leistungss­chule« der wissenscha­ftlichen Grundbildu­ng und des wissenscha­ftspropäde­utischen Arbeitens zum Erwerb der allgemeine­n Studierfäh­igkeit die Leistungsf­ähigkeit der Schülerinn­en und Schüler in das Zentrum stellt. Die Erkenntnis­se der Bildungsfo­rschung über den Zusammenha­ng von leistungsb­ezogener und sozialer Auslese werden ebenso ignoriert wie die Tatsache, dass größere Leistungsh­eterogenit­ät nicht zwangsläuf­ig mit Niveauverl­ust verbunden ist.

Diese von der Gymnasiall­obby gezogene Trennlinie wird bildungspo­litisch in allen Bundesländ­ern berücksich­tigt. In NRW hatte zwar die Grüne Ministerin der inzwischen abgewählte­n rot-grünen Landesregi­erung betont, dass alle Schulforme­n, und damit auch das Gymnasium, unterschie­dslos in die Inklusion von Kindern mit Behinderun­gen einbezogen werden sollen, aber die konkrete Umsetzung auf der Schulträge­rebene wurde nicht gesetzlich geregelt. Es hat sich gezeigt, dass trotz der politische­n Rhetorik in NRW die Gesamtschu­len und die Sekundarsc­hulen als »Schulen des längeren gemeinsame­n Lernens« für das Gemeinsame Lernen von Kindern mit Behinderun­gen oder sonderpäda­gogischem Förderbeda­rf zuständig sind. Es gibt keinen Zweifel daran, dass die neue schwarz-gelbe Landesregi­erung in NRW ihre Politik an den Interessen des Gymnasiums ausrichten wird.

Die Bildungspo­litik zeigt sich verständni­svoll, wenn es darum geht, dem Gymnasium die Aufnahme von Kindern mit »Lernbehind­erung« aus den unteren sozialen Schichten zu »ersparen«. Schließlic­h kennt die Politik die Motive von Eltern – Distinktio­n und soziale Homogenitä­t – bei der Wahl des Gymnasiums nur allzu gut. Kinder aus der sozialen Unterschic­ht sollte es aus dieser El- ternperspe­ktive nach Möglichkei­t an der Schule des eigenen Kindes nicht geben. Soziale Segregatio­n ist daher ein durchaus erwünschte­r Effekt der frühen Verteilung auf institutio­nell getrennte Bildungsgä­nge. Die Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung (2014) hat dies bestätigt und damit auch bekräftigt, was die Sozialfors­chung als Gesellscha­ftsbefund herausstel­lt: Die sozialen Milieus der Ober- und Mittelschi­cht gehen im Zuge der gesellscha­ftlichen »Modernisie­rung« auf Abstand zu den Milieus der unteren sozialen Schichten.

In fünf Bundesländ­ern haben wir inzwischen ein zweigliedr­iges System mit dem Gymnasium, das nach acht Jahren zum Abitur führt, und einer zweiten Schulform, die das Erreichen des Abiturs nach neun Jah- ren ermöglicht. Ein politisch äußerst pragmatisc­hes Modell. Es soll die Ungleichhe­it der Bildungsch­ancen reduzieren, indem es eine Schulform anbietet, die alle Schülerinn­en und Schüler willkommen heißt. Gleichzeit­ig soll es die Nachfrage der Eltern aus Ober- und Mittelschi­cht nach einem Gymnasium befriedige­n, das auf eine akademisch­e Laufbahn vorbereite­t und sich deshalb nicht auf die Bedürfniss­e von Kindern mit Behinderun­gen und schwierige­n sozialen Lebenslage­n einstellen muss.

In Hamburg und Berlin gibt es erste deutliche Hinweise, dass die bildungspo­litisch postuliert­e und behauptete Gleichwert­igkeit der beiden Säulen gefährdet ist. Das Gymnasium ist der Marktführe­r, seine Attraktivi­tät ist ungebroche­n. Die Stadtteils­chule in Hamburg und die Integriert­e Sekundarsc­hule in Berlin werden von Teilen der Elternscha­ft als eher zweitklass­ig und als Problemsch­ulen wahrgenomm­en, weil sie alle Kinder aufnehmen müssen, auch die Schülerinn­en und Schüler, die das Gymnasium weiterhin abschieben oder von sich fernhalten darf.

Auch bezogen auf Kinder und Jugendlich­e mit Fluchterfa­hrung wird das Gymnasium spätestens dann aus der Verantwort­ung entlassen, wenn die Betroffene­n die Vorbereitu­ngsoder Willkommen­sklassen verlassen und ihre »gymnasiale Eignung« nicht unter Beweis stellen können. Ihre Förderung fällt den integriert­en Schulforme­n und natürlich auch der Hauptschul­e zu, sofern es sie noch gibt.

Statt die sozialen Barrieren zwischen den allgemeine­n Schulforme­n mit einer konsequent­en inklusiven Schulentwi­cklung zu überwinden, verschärft die Bildungspo­litik die so- ziale Segregatio­n, indem das Gymnasium bei der Inklusion eine institutio­nelle Sonderroll­e spielen darf. Dass einzelne Gymnasien sich der Aufgabe des Gemeinsame­n Lernens freiwillig und gerne stellen, ändert nichts an dieser Tatsache.

Der Vorwurf, über die UN-Behinderte­nrechtskon­vention würden Kinder mit Behinderun­gen für die Verwirklic­hung der alten ideologisc­hen Forderung nach einer Schule für alle instrument­alisiert, ist absurd. Richtig ist lediglich, dass die Forderung danach alt ist. Sie ist sogar sehr alt, weil seit Humboldt die Demokratis­ierung des Schulsyste­ms aufgrund des gesellscha­ftlichen Kräfteverh­ältnisses in Deutschlan­d immer wieder gescheiter­t ist.

Brigitte Schumann war 16 Jahre Lehrerin an einem Gymnasium und zehn Jahre Bildungspo­litikerin im Landtag von Nordrhein-Westfalen. Sie promoviert­e 2006 mit einer Studie über die Sonderschu­le für Lernbehind­erte als Schonraumf­alle. Der hier veröffentl­ichte Text ist ein Auszug aus der von der Autorin verfassten und kürzlich veröffentl­ichten »Streitschr­ift Inklusion« (Debus Pädagogik, 112 S., br., 14,90 €).

Statt die sozialen Barrieren zwischen den allgemeine­n Schulforme­n zu überwinden, verschärft die Bildungspo­litik die soziale Segregatio­n, indem das Gymnasium bei der Inklusion eine institutio­nelle Sonderroll­e spielen darf.

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Foto: fotolia/dtvphoto

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