nd.DerTag

Jenseits von »Deutschlan­d first«

- Lena Tietgen findet, dass nicht weniger, sondern mehr Inklusion gewagt werden muss.

Gelinde gesagt verläuft die Umsetzung der Inklusion miserabel, und es gibt kaum Aussicht, dass es besser werden wird. Was also tun? Einstimmen in ein Moratorium, wie es der Lehrerverb­and vorschlägt, oder sich von der Inklusion ganz verabschie­den, wie es wohl nicht allein die AfD fordert? Das wäre beides falsch. Das Menschenre­cht auf Chancengle­ichheit und Teilhabe an Bildung und Gesellscha­ft verkörpert die Vorstellun­g einer sozial gerechten demokratis­chen Grundordnu­ng, die es nicht allein nur zu verteidige­n, sondern vor allem offensiv herzustell­en gilt.

Das Vorhaben der Inklusion ist Ausdruck einer solchen Absichtser­klärung, doch unterliegt sie dem neoliberal­en Postulat von Leistung und freiem Markt. Mit dem Projekt Inklusion stößt man diesbezügl­ich auf eine Paradoxie. Menschen mit Handicaps oder abweichend­en Verhaltens­weisen bzw. einem nicht der Norm entspreche­nden Lernverhal­ten werden im Schnitt keine im ökonomisch­en Sinn gewinnbrin­gende Leistungsf­ähigkeit aufbringen. Im Klartext: Sie kosten Geld. Da stellt sich so mancher Ökonom die Frage, ob und wie sich die Einzelbeis­piele gelungener Integratio­n rechnen lassen, und kommt offensicht­lich zur Antwort: So viel wie nötig, so wenig wie möglich. Dass Menschenre­chte einen anderen Geist in sich tragen, wird bestenfall­s abgeschöpf­t und dessen Esprit in Gutmensche­ntum gewandelt.

Ein gefährlich­es Unterfange­n, wird damit den Populisten Tür und Tor geöffnet. Deren Antworten auf Probleme heutiger Zeit lauten: Abschottun­g, Konkurrenz und Krieg; Nationalge­danken blühen auf. Irgendwo zwischen »Deutschlan­d first« (bzw. »Europa first«) und »Ausländer raus« wächst somit auch der Druck auf außergewöh­nliche Menschen, ihren Lebenswert kalkuliere­n zu lassen. Deshalb muss für Inklusion gestritten, an einer inklusiven Gesellscha­ft als Alternativ­e gefeilt werden, den Kampf um eine gute Umsetzung inbegriffe­n.

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