Als die Rochen langsam krochen
Schon die ersten Rochen besaßen die Nervennetze für den vierfüßigen Gang.
Lange bevor die ersten Fische auf vier Flossen das Festland betraten, besaßen schon die Verwandten der Rochen alles im Gehirn, was zum Laufen nötig ist.
Das Gehen ist eine der revolutionärsten Entwicklungen in der Evolution der Wirbeltiere. Es gehört heute zum Allgemeinwissen, dass in grauer Vorzeit Fische aus ihrer maritimen Heimat an Land krabbelten und sich zu Tetrapoden, vierfüßigen Wirbeltieren, entwickelten, die fortan per pedes durch die Welt gingen. Das passierte freilich nicht an jenen in der Schöpfungsgeschichte geschilderten zwei Tagen, an denen Gott erst Fische und Vögel und dann Landtiere und Menschen schuf. Für diesen komplexen evolutionären Prozess brauchte es vielmehr viele Millionen Jahre.
Ein internationales Wissenschaftlerteam um Jeremy S. Dasen von der New York University hat neue Erkenntnisse über jene Nervennetzwerke gewonnen, die für das Gehen an Land unverzichtbar sind. Diese lassen die Wissenschaftler vermuten, dass der letzte gemeinsame Vorfahr von Haien und Knochenfischen schon vor etwa 400 Millionen Jahren am Grund von Urozeanen wie dem Thetysmeer lief – 50 Millionen Jahre bevor Landtiere die Erde bevölkerten.
In der im Fachjournal »Cell« (DOI: 10.1016/j.cell.2018.01.013) veröffentlichten Studie zeigen die Forscher anhand der Bewegungen der Kleinen Rochen (Leucoraja erinacea) und deren Genen, dass die Fähigkeit zu laufen schon Millionen von Jahren vor den ersten Vierfüßern an Land vorhanden war. Kleine Rochen leben bodennah im Nordwestatlantik vor der Küste Nordamerikas.
Für die Co-Autorin der Studie Catherine Boisvert von der Curtin Uni- versity im westaustralischen Bentley stellen die Ergebnisse bisherige Theorien über die Entwicklung der Gehfähigkeit in Frage. »Die Nervennetze, die man zum Laufen braucht, hielt man bei den Landtieren, die vor 380 Millionen Jahren aus Fischen hervorgingen, für einzigartig. Aber unsere Forschung zeigt, dass bereits der Kleine Rochen und einige einfache Haiarten diese neuronalen Netzwerke hatten«, sagt Boisvert.
Videoaufnahmen hätten zudem gezeigt, dass Embryonen des Kleinen Rochens auf dem Boden eines Aquariums »laufen«. »Deren Nervenimpulse wurden aufgezeichnet, die genetische Information eines Gens in den Nerven, die ihre Flossen kontrollieren, getestet und mit denen von Säugetieren und Hühnern verglichen. Eine Liste der aktiven Gene in den Nerven, die die Flossen des Kleinen Rochen steuern, wurde zusammengestellt und mit denen des Elefantenhais und des Katzenhais verglichen. Es zeigte sich, dass sie sich (in diesen Tieren) erhalten haben.«
Der Elefantenhai gilt als das Wirbeltier mit der langsamsten Genomevolution weltweit. Callorhinchus milii hat sich seit gut 400 Millionen Jahren so gut wie nicht verändert. Und die seit über 150 Millionen Jahren existierenden Katzenhaie leben ähnlich wie der Kleine Rochen nahe am Meeresboden.
Beim Vergleich der Resultate habe sich gezeigt, so Boisvert, dass der Kleine Rochen ein ähnliches Nervennetzwerk wie ein Vierfüßer aufweise. »Diese Forschung ist sehr bedeutsam, weil der Kleine Rochen ein sehr gutes Modell für das Verständnis der Entwicklung von Nervennetzen zur Steuerung unserer Gliedmaßen ist und zudem weitere Informationen über die mit ihnen verbundenen Krankheiten liefern könnte«, betont Boisvert.
Leucoraja erinacea ist dennoch nicht der »Urläufer«. Ein Vorläufer der späteren Tetrapoden ist Gogonasus, eine rund 400 Millionen Jahre alte Gattung urzeitlicher Fische aus dem späten Oberdevon. Das ergab die sorgfältige Untersuchung eines ungewöhnlich gut erhaltenen, 2005 in einem Kalksteinbruch in Westaustralien gefundenen fossilen Exemplars.
Gogonasus hatte bereits Atemlöcher im Bereich der Kiemen und die Anordnung der Brustflossenknochen ähnelte der des urzeitlichen Fisches Tiktaalik, einer Gattung amphibienähnlicher Fleischflosser, die nach heutigem Kenntnisstand den Landwirbeltieren am nächsten steht. »Das Fossil weist für einen Fisch überraschend weit entwickelte Eigenschaften auf, von denen wir in Bezug auf seine Struktur und Anatomie bisher nicht einmal geträumt haben«, sagte seinerzeit John Long, Leiter der Expedition, gegenüber australischen Medien. »Wenn man bisher die Vorfahren der Menschheit zum Anfang der Landtiere zurückverfolgte, dann kann man sie jetzt noch weiter zurück bis zu diesem Fisch nachvollziehen.«
Auch andere Fischarten verfügen über eine gewisse Fähigkeit, sich auf dem Grund von Gewässern beinahe laufend fortzubewegen. Eine davon ist der Quastenflosser, dessen Brustund Bauchflossen den Gliedmaßen der Landwirbeltiere ähneln. Auch die Lungenfische gelten als entfernte Verwandte der landlebenden Tetrapoden. Beide heute noch lebende Arten sind gewissermaßen lebende Fossile.
Über Gogonasus sagt Boisvert gegenüber dem »nd«, er sei enger mit den Tetrapoden verwandt als die Quastenflosser. Letztere seien eher eine Seitenlinie der Fleischflosser, die »ihr eigenes Ding« gemacht hätten. »Die sind nicht per se ein Vorfahre der Tetrapoden, sondern nur eine Art entfernter Cousin.«
In Australien sorgte vor einigen Jahren eine von den Medien »Fishzilla« getaufte Barschart für Furore. Der vermutlich aus Papua Neuguinea nach Australien eingewanderte Barsch kann auf der Jagd nach Beutetieren das Wasser verlassen und gar auf Bäume klettern. Im malaysischen Malakka sind die Schlammspringer, eine uralte, amphibisch lebende Gattung von Fischen, eine Touristenattraktion.
Die Kleinen Rochen sind also nicht der Anfang aller Tetrapoden. »Sie entstanden erst nach den ersten Tetrapoden«, sagt Boisvert. »Aber was wir in unserem Papier über den Ursprung der terrestrischen Fortbewegungsfähigkeit sagen, ist dieses: Die von uns in den Kleinen Rochen entdeckten neuronalen Netzwerke sind uralt und waren schon in dem letzten gemeinsamen Vorfahren der Kleinen Rochen und der Tetrapoden präsent. Das bedeutet, dass sich die für das Gehen notwendigen neuronalen Netzwerke lange Zeit vor dem eigentlichen Gehen auf dem Land entwickelt haben. Das wiederum bedeutet, dass die Tetrapoden diese Eigenschaften von ihren beinlosen Vorfahren geerbt haben.«