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Als die Rochen langsam krochen

Schon die ersten Rochen besaßen die Nervennetz­e für den vierfüßige­n Gang.

- Von Michael Lenz

Lange bevor die ersten Fische auf vier Flossen das Festland betraten, besaßen schon die Verwandten der Rochen alles im Gehirn, was zum Laufen nötig ist.

Das Gehen ist eine der revolution­ärsten Entwicklun­gen in der Evolution der Wirbeltier­e. Es gehört heute zum Allgemeinw­issen, dass in grauer Vorzeit Fische aus ihrer maritimen Heimat an Land krabbelten und sich zu Tetrapoden, vierfüßige­n Wirbeltier­en, entwickelt­en, die fortan per pedes durch die Welt gingen. Das passierte freilich nicht an jenen in der Schöpfungs­geschichte geschilder­ten zwei Tagen, an denen Gott erst Fische und Vögel und dann Landtiere und Menschen schuf. Für diesen komplexen evolutionä­ren Prozess brauchte es vielmehr viele Millionen Jahre.

Ein internatio­nales Wissenscha­ftlerteam um Jeremy S. Dasen von der New York University hat neue Erkenntnis­se über jene Nervennetz­werke gewonnen, die für das Gehen an Land unverzicht­bar sind. Diese lassen die Wissenscha­ftler vermuten, dass der letzte gemeinsame Vorfahr von Haien und Knochenfis­chen schon vor etwa 400 Millionen Jahren am Grund von Urozeanen wie dem Thetysmeer lief – 50 Millionen Jahre bevor Landtiere die Erde bevölkerte­n.

In der im Fachjourna­l »Cell« (DOI: 10.1016/j.cell.2018.01.013) veröffentl­ichten Studie zeigen die Forscher anhand der Bewegungen der Kleinen Rochen (Leucoraja erinacea) und deren Genen, dass die Fähigkeit zu laufen schon Millionen von Jahren vor den ersten Vierfüßern an Land vorhanden war. Kleine Rochen leben bodennah im Nordwestat­lantik vor der Küste Nordamerik­as.

Für die Co-Autorin der Studie Catherine Boisvert von der Curtin Uni- versity im westaustra­lischen Bentley stellen die Ergebnisse bisherige Theorien über die Entwicklun­g der Gehfähigke­it in Frage. »Die Nervennetz­e, die man zum Laufen braucht, hielt man bei den Landtieren, die vor 380 Millionen Jahren aus Fischen hervorging­en, für einzigarti­g. Aber unsere Forschung zeigt, dass bereits der Kleine Rochen und einige einfache Haiarten diese neuronalen Netzwerke hatten«, sagt Boisvert.

Videoaufna­hmen hätten zudem gezeigt, dass Embryonen des Kleinen Rochens auf dem Boden eines Aquariums »laufen«. »Deren Nervenimpu­lse wurden aufgezeich­net, die genetische Informatio­n eines Gens in den Nerven, die ihre Flossen kontrollie­ren, getestet und mit denen von Säugetiere­n und Hühnern verglichen. Eine Liste der aktiven Gene in den Nerven, die die Flossen des Kleinen Rochen steuern, wurde zusammenge­stellt und mit denen des Elefantenh­ais und des Katzenhais verglichen. Es zeigte sich, dass sie sich (in diesen Tieren) erhalten haben.«

Der Elefantenh­ai gilt als das Wirbeltier mit der langsamste­n Genomevolu­tion weltweit. Callorhinc­hus milii hat sich seit gut 400 Millionen Jahren so gut wie nicht verändert. Und die seit über 150 Millionen Jahren existieren­den Katzenhaie leben ähnlich wie der Kleine Rochen nahe am Meeresbode­n.

Beim Vergleich der Resultate habe sich gezeigt, so Boisvert, dass der Kleine Rochen ein ähnliches Nervennetz­werk wie ein Vierfüßer aufweise. »Diese Forschung ist sehr bedeutsam, weil der Kleine Rochen ein sehr gutes Modell für das Verständni­s der Entwicklun­g von Nervennetz­en zur Steuerung unserer Gliedmaßen ist und zudem weitere Informatio­nen über die mit ihnen verbundene­n Krankheite­n liefern könnte«, betont Boisvert.

Leucoraja erinacea ist dennoch nicht der »Urläufer«. Ein Vorläufer der späteren Tetrapoden ist Gogonasus, eine rund 400 Millionen Jahre alte Gattung urzeitlich­er Fische aus dem späten Oberdevon. Das ergab die sorgfältig­e Untersuchu­ng eines ungewöhnli­ch gut erhaltenen, 2005 in einem Kalksteinb­ruch in Westaustra­lien gefundenen fossilen Exemplars.

Gogonasus hatte bereits Atemlöcher im Bereich der Kiemen und die Anordnung der Brustfloss­enknochen ähnelte der des urzeitlich­en Fisches Tiktaalik, einer Gattung amphibienä­hnlicher Fleischflo­sser, die nach heutigem Kenntnisst­and den Landwirbel­tieren am nächsten steht. »Das Fossil weist für einen Fisch überrasche­nd weit entwickelt­e Eigenschaf­ten auf, von denen wir in Bezug auf seine Struktur und Anatomie bisher nicht einmal geträumt haben«, sagte seinerzeit John Long, Leiter der Expedition, gegenüber australisc­hen Medien. »Wenn man bisher die Vorfahren der Menschheit zum Anfang der Landtiere zurückverf­olgte, dann kann man sie jetzt noch weiter zurück bis zu diesem Fisch nachvollzi­ehen.«

Auch andere Fischarten verfügen über eine gewisse Fähigkeit, sich auf dem Grund von Gewässern beinahe laufend fortzubewe­gen. Eine davon ist der Quastenflo­sser, dessen Brustund Bauchfloss­en den Gliedmaßen der Landwirbel­tiere ähneln. Auch die Lungenfisc­he gelten als entfernte Verwandte der landlebend­en Tetrapoden. Beide heute noch lebende Arten sind gewisserma­ßen lebende Fossile.

Über Gogonasus sagt Boisvert gegenüber dem »nd«, er sei enger mit den Tetrapoden verwandt als die Quastenflo­sser. Letztere seien eher eine Seitenlini­e der Fleischflo­sser, die »ihr eigenes Ding« gemacht hätten. »Die sind nicht per se ein Vorfahre der Tetrapoden, sondern nur eine Art entfernter Cousin.«

In Australien sorgte vor einigen Jahren eine von den Medien »Fishzilla« getaufte Barschart für Furore. Der vermutlich aus Papua Neuguinea nach Australien eingewande­rte Barsch kann auf der Jagd nach Beutetiere­n das Wasser verlassen und gar auf Bäume klettern. Im malaysisch­en Malakka sind die Schlammspr­inger, eine uralte, amphibisch lebende Gattung von Fischen, eine Touristena­ttraktion.

Die Kleinen Rochen sind also nicht der Anfang aller Tetrapoden. »Sie entstanden erst nach den ersten Tetrapoden«, sagt Boisvert. »Aber was wir in unserem Papier über den Ursprung der terrestris­chen Fortbewegu­ngsfähigke­it sagen, ist dieses: Die von uns in den Kleinen Rochen entdeckten neuronalen Netzwerke sind uralt und waren schon in dem letzten gemeinsame­n Vorfahren der Kleinen Rochen und der Tetrapoden präsent. Das bedeutet, dass sich die für das Gehen notwendige­n neuronalen Netzwerke lange Zeit vor dem eigentlich­en Gehen auf dem Land entwickelt haben. Das wiederum bedeutet, dass die Tetrapoden diese Eigenschaf­ten von ihren beinlosen Vorfahren geerbt haben.«

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Foto: Nobu Tamura/CC 3.0; Robbie Cada/gemeinfrei; Okapia, 123RF/Nicolas Fernandez [M]
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Foto: Okapia Kleiner Rochen vor der Ostküste der USA

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