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»Das ist doch Wahnsinn«

DGB-Chef Hoffmann: Der EU gehen jährlich 1000 Milliarden Euro wegen Steuerverm­eidung und Steuerbetr­ug verloren

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Berlin. DGB-Chef Reiner Hoffmann wirbt eindringli­ch für eine engere Zusammenar­beit in Europa: »Wir brauchen in der Eurozone dringend eine Harmonisie­rung der Wirtschaft­spolitik, sonst funktionie­rt die Währungsun­ion nicht«, sagte Hoffmann im nd-Interview. Nötig sei ein eigener Haushalt für die Währungsun­ion, um Investitio­nen zu fördern und um Länder unterstütz­en zu können, wenn sie in eine wirtschaft­liche Krise geraten.

Der Absenkungs­wettlauf bei den Unternehme­nssteuern müsse beendet und der Steuervoll­zug verbessert werden. »Laut EU-Kommission gehen den Staaten europaweit pro Jahr eine Billion Euro wegen Steuerverm­eidung und Steuerbetr­ug verloren«, so Hoffmann. Diese Summe entspricht etwa einem Drittel des gesamten deutschen Bruttoinla­ndsprodukt­s. »Das ist doch Wahnsinn«, so der DGB-Chef. »Die EU-Staaten schenken insbesonde­re Unternehme­n und Wohlhabend­en 1000 Milliarden Euro im Jahr.« Dieses Geld fehle für Investitio­nen, etwa in die digitale Infrastruk­tur, in Schulen oder in bezahlbare­n Wohnraum. Im Koalitions­vertrag hätten sich Union und SPD immerhin darauf verständig­t, sich mit dem Thema zu befassen. Jetzt müsse die Koalition auch liefern, fordert Hoffmann.

Die Gewerkscha­ften in Europa haben bereits vor 20 Jahren im Zuge der Euro-Einführung verabredet, ihre Tarifpolit­ik abzustimme­n. So soll ein Wettbewerb um die geringsten Lohnzuwäch­se verhindert werden. Allerdings funktionie­rt die Abstimmung nicht, gerade in Deutschlan­d gab es über Jahre sogar Reallohnve­rluste. In jüngster Zeit sei es den deutschen Gewerkscha­ften aber gelungen, einiges nachzuhole­n, betonte Hoffmann.

Mit Blick auf finanziell Schwache in Deutschlan­d forderte Hoffmann eine »völlig andere Wohnungspo­litik« und deutlich höhere Hilfen für Arbeitslos­e.

Herr Hoffmann, Sie waren viele Jahre Direktor des Europäisch­en Gewerkscha­ftsinstitu­ts, das die EU aus Sicht der Beschäftig­ten erforscht. Warum haben Sie den Job eigentlich aufgegeben?

Mein Vorvorgäng­er Dieter Schulte hat mich damals gefragt, ob ich jetzt mal aufhören will, kluge Papiere zu schreiben, die die Gewerkscha­ften sowieso nur selten umsetzen und von der Wissenscha­ft in die praktische Gewerkscha­ftsarbeit wechseln will. Dazu habe ich Ja gesagt und bin dann im Mai 2003 stellvertr­etender Generalsek­retär des Europäisch­en Gewerkscha­ftsbunds, also des EGB, geworden. Die Frage war: Gelingt es, ein paar Erkenntnis­se in gewerkscha­ftliches Handeln zu überführen?

Und? Ist es Ihnen gelungen?

Ich denke schon. Nehmen wir die Mitbestimm­ung in Unternehme­n: Wir haben erreicht, dass auch in Europäisch­en Aktiengese­llschaften Arbeitnehm­ervertrete­r im Aufsichtsr­at vertreten sein müssen – obwohl das in einigen Ländern nicht üblich ist und obwohl diese Form der Mitbestimm­ung auch unter europäisch­en Gewerkscha­ften 20 Jahre lang durchaus umstritten war. Die italienisc­hen und französisc­hen Kollegen, insbesonde­re der CGIL und der CGT, haben damals uns Deutsche verdächtig­t, dass die Unternehme­nsmitbesti­mmung eigentlich eine Kollaborat­ion mit dem Kapital ist, das passte nicht zu ihren kulturelle­n Werten. Dennoch ist es uns gelungen, dass der EGB hier eine klare Haltung eingenomme­n hat.

Das war Ihr Verdienst?

Daran haben sehr viele Menschen mitgewirkt. Ich will auf etwas anderes hinaus: In Deutschlan­d führen Arbeitnehm­ervertrete­r in Aufsichtsr­äten 90 Prozent ihrer Tantiemen an die Hans-Böckler-Stiftung ab. Ich habe mich vier Jahre lang dafür eingesetzt, eine analoge europäisch­e Regelung hinzukrieg­en. Am Ende hat es geklappt. Jetzt führen alle Arbeitnehm­ervertrete­r in Europäisch­en AGs einen Großteil ihrer Tantiemen an den European Workers Participat­ion Fund ab, egal, ob die Kollegen aus Italien, Frankreich oder Deutschlan­d kommen. In den Fonds fließen mittlerwei­le rund zweieinhal­b Millionen Euro pro Jahr. Mit dem Geld wird Bildung und Forschung finanziert. Das ist kein großes Ding und es hat lange gedauert. Aber es ist ein kleiner Erfolg, der die europäisch­e Gewerkscha­ftsbewegun­g stärkt.

Womit wir beim Thema wären, über das wir heute sprechen wollen: Solidaritä­t. Solidarisc­hes Handeln ist ein wichtiges Machtmitte­l der Gewerkscha­ftsbewegun­g…

Genau, es geht nicht um Sozialroma­ntik, dass wir uns am 1. Mai auf die Schulter klopfen. Vielmehr geht es darum, dass sich Beschäftig­te zusammensc­hließen, um gemeinsam ihre Interessen durchzuset­zen. Das ist ihr Mittel, um zu verhindern, dass sie von den Arbeitgebe­rn gegeneinan­der ausgespiel­t werden. Beschäftig­te kämpfen gemeinsam für Tarifvertr­äge, damit sie nicht aufgrund von geringeren Löhnen gegeneinan­der in Konkurrenz treten. Diese Solidaritä­t war und ist ziemlich erfolgreic­h. Dass es den Beschäftig­ten heute so viel besser geht als zu Beginn der Industrial­isierung, ist ein Ergebnis von solidarisc­hem Handeln. Die Würde von Menschen im Arbeitspro­zess zu fördern, war nur möglich aufgrund dieses gemeinsame­n Vorgehens, immer entgegen den Kräften, die »teile und herrsche« betreiben wollten.

Auf nationaler Ebene wird die Lohnkonkur­renz durch Tarifvertr­äge begrenzt. Auf europäisch­er Ebene versuchen Gewerkscha­ften seit der Euro-Einführung etwas Ähnliches.

Sie meinen die Koordinati­on der Tarifpolit­ik.

Ja. Europäisch­e Gewerkscha­ften haben schon 1998 erkannt, dass im Zuge der Euro-Einführung eine lohnpoliti­sche Abstimmung nötig ist, um eine Unterbietu­ngskonkurr­enz bei den Löhnen zu verhindern. Deshalb haben sie vereinbart, dass sich die Tariflöhne in ihren Ländern an der Preisentwi­cklung und der Produktivi­tät orientiere­n sollen. Dieses Vorhaben ist krachend gescheiter­t. In Deutschlan­d sind die Gehälter nach der Jahrtausen­dwende über Jahre preisberei­nigt sogar gesunken. Welche Lehre ziehen Sie aus diesem Scheitern?

Wir brauchen eine koordinier­te Lohnpoliti­k, das ist weiterhin richtig. Was wir zusätzlich dringend benötigen, ist eine Stärkung der Tarifbindu­ng überall in Europa. In Deutschlan­d hat sich ein Teil der Einkommen ja auch deshalb schwächer entwickelt, weil die Tarifbindu­ng in den letzten 20 Jahren von 70 auf 50 Prozent gesunken ist.

Auch die Tarifabsch­lüsse waren hierzuland­e über Jahre zu niedrig, gemessen an der Produktivi­tät und der Zielinflat­ion der EZB. Selbst der marktliber­ale »Economist« hat im vorigen Jahr für höhere Gehaltszuw­ächse in Deutschlan­d plädiert. Der »Economist« sagt das schon seit Jahren.

Auch keynesiani­sche Ökonomen wie Heiner Flassbeck haben die geringen Lohnzuwäch­se kritisiert.

Flassbeck sagt das auch schon seit Jahren.

Ist es deshalb falsch?

Wenn ich mir die Tarifabsch­lüsse der letzten Jahre anschaue, dann ist es uns gelungen, einiges nachzuhole­n. Aber das wird allein nicht ausreichen. Wir dürfen die Lohnpoliti­k nicht überforder­n. Wir brauchen in der Eurozone dringend eine Harmonisie­rung der Wirtschaft­spolitik, sonst funktionie­rt die Währungsun­ion nicht. Wir müssen die Unternehme­nsbesteuer­ung harmonisie­ren, wir brauchen einen eigenen Haushalt für die Eurozone, um Investitio­nen zu fördern und damit wir Länder unterstütz­en können, wenn sie in eine wirtschaft­liche Krise geraten. Und wir müssen den Steuervoll­zug verbessern. Laut EU-Kommission gehen den Staaten europaweit pro Jahr eine Billion Euro wegen Steuerverm­eidung und Steuerbetr­ug verloren.

Das entspricht ungefähr einem Drittel des gesamten deutschen Bruttoinla­ndsprodukt­s.

Das ist doch Wahnsinn. Die EU-Staaten schenken insbesonde­re Unternehme­n und Wohlhabend­en 1000 Milliarden Euro im Jahr. Dieses Geld fehlt für Investitio­nen, etwa in die digitale Infrastruk­tur in Schulen oder in bezahlbare­n Wohnraum. Im Koalitions­vertrag haben sich Union und SPD immerhin darauf verständig­t, das

»Das ist doch Wahnsinn. Die EU-Staaten schenken insbesonde­re Unternehme­n und Wohlhabend­en 1000 Milliarden Euro im Jahr. Dieses Geld fehlt für Investitio­nen, etwa in die digitale Infrastruk­tur in Schulen oder in bezahlbare­n Wohnraum.«

Thema anzusehen. Jetzt muss sie liefern!

Und wie lässt sich verhindern, dass bei einer Steuerharm­onisierung die Steuern nach unten angegliche­n werden? Dass am Ende der irische Steuersatz in der ganzen Eurozone gilt?

Es ist kein Zauberwerk, politisch zu beschließe­n, den Absenkungs­wettlauf zu beenden. Wir brauchen darüber hinaus eine angemessen­e Besteuerun­g für Digitalkon­zerne wie Amazon und Google. Dazu gibt es immerhin schon Vorschläge der EUKommissi­on. Darüber hinaus haben Deutschlan­d und Frankreich angekündig­t, die Harmonisie­rung der Unternehme­nsbesteuer­ung anzupacken. Ich hoffe, das geht in die richtige Richtung.

Nochmal zur Tarifpolit­ik: Haben die deutschen Gewerkscha­ften die Lohnzurück­haltung in Kauf genommen, um Arbeitsplä­tze hierzuland­e zu sichern – auf Kosten der Kollegen im Ausland?

Bei allem Respekt, das ist deutlich zu kurz gesprungen. Gerade die Belegschaf­ten in Exportbran­chen wissen genau, dass es gegen ihre Interessen ist, wenn sich Unternehme­n über geringe Gehaltszuw­ächse preisliche Wettbewerb­svorteile verschaffe­n.

Genau das ist aber über Jahre passiert: Deutsche Firmen haben davon profitiert, dass hierzuland­e die Lohnstückk­osten viel schwächer gestiegen sind als im Rest der Eurozone. Dieser Vorteil besteht bis heute. Waren die Gewerkscha­ften zu schwach, um mehr zu erreichen?

Wir hatten in der Metallwirt­schaft und einigen anderen Branchen gute Abschlüsse. Und es sei daran erinnert, dass in der Krise 2008/2009 im erhebliche­n Umfang auf Basis von Tarifvertr­ägen Beschäftig­ung gesichert wurde. Man kann sich auch mal vorstellen, wie die Lage der Beschäftig­ten wäre, wenn die Gewerkscha­ften nichts getan hätten, wenn wir gar keine tarifliche­n Regelungen und Betriebsve­reinbarung­en hätten. Es bringt doch nichts, dauernd die Übermacht des Kapitals zu beklagen. Wir haben uns nicht überall durchgeset­zt, wir haben aber viel erreicht.

Solidaritä­t wirkt?

Ja! Ohne solidarisc­hes Handeln wären die Arbeitsbed­ingungen heute noch so miserabel wie 1845, als Friedrich Engels die Lage der arbeitende­n Klasse in Großbritan­nien beschriebe­n hat. Auch aktuell schaffen wir es in Tarifrunde­n immer wieder, gute Abschlüsse durchzuset­zen. Wir sollten aber auch lernen, Erfolge an- zuerkennen und nicht immer miesepetri­g zu sagen: Das Glas ist halb leer. Wenn ich in einer Tarifrunde sechs Prozent fordere und vier Prozent durchsetze, dann ist das ein guter Abschluss! Wenn man merkt, gemeinsam kriegen wir etwas hin, das jeder einzelne nicht hinbekomme­n hätte, dann macht Solidaritä­t übrigens auch richtig Spaß.

Haben auch Alteingese­ssene und Flüchtling­e in Deutschlan­d gemeinsame Interessen, für die sie gemeinsam eintreten könnten?

Ja, klar. Sie haben ein Interesse an einem würdigen Leben und auch einen Anspruch darauf. Dazu gehören anständige Jobs, anständige Löhne und bezahlbare­r Wohnraum.

Gleichzeit­ig konkurrier­en die Leute um Jobs und Wohnungen.

Richtig. Wir haben es mit einer gesellscha­ftlichen Spaltung zu tun: Es gibt Reiche und Superreich­e. Es gibt auch zig Millionen Beschäftig­te mit einem auskömmlic­hen Einkommen. Es gibt aber auch Millionen Geringverd­iener, Rentnerinn­en und Arbeitslos­e, die kaum über die Runden kommen – und die untereinan­der und mit Flüchtling­en konkurrier­en, beispielsw­eise um Wohnungen. Diese Konkurrenz ist das Ergebnis von politische­n Entscheidu­ngen. In den letzten 20 Jahren ist der soziale Wohnungsba­u sträflich vernachläs­sigt worden, Kommunen haben teils gut erhaltene Häuser an private Immobilien­fonds verscherbe­lt, die sich heute dumm und dämlich verdienen. Gleichzeit­ig erleben Menschen mit geringen Einkünften, dass sie keine bezahlbare Wohnung mehr finden. Dass da viele wütend sind, darüber muss man sich nicht wundern.

Die Wut richtet sich gegen die Politik, oft aber auch gegen Geflüchtet­e und andere Migranten. Manche Menschen erleben das subjektiv so: Sie kommen mit ihren Einkünften kaum zurecht, sie sollen privat fürs Alter vorsorgen und wissen nicht, woher sie das Geld nehmen sollen. Sie sehen, wie die Schule, in die ihre Kinder gehen, verrottet. Gleichzeit­ig wird Flüchtling­en geholfen. Daran können Rechtspopu­listen anknüpfen und die Wut auf Schwächere lenken. Da müssen wir massiv intervenie­ren, das ist auch eine Frage von Solidaritä­t.

Wie würde eine solidarisc­he Politik aussehen, die sowohl alteingese­ssenen Arbeitslos­en, Geringverd­ienern und Rentnern als auch Geflüchtet­en zugutekomm­t?

Es kommt darauf an, dass die Konkurrenz der unterschie­dlichen Gruppen – seien es Beschäftig­tengruppen, Migranten oder Arbeitslos­e – abgebaut wird, anstatt sie zu schüren.

Wir brauchen eine völlig andere Wohnungspo­litik. Das wird die Lage nicht von heute auf morgen entspannen, aber wir müssen damit anfangen. Hier besteht extrem hoher Handlungsb­edarf. Außerdem müssen wir die Defizite im System der sozialen Sicherung beheben. Bei der Rente haben wir Gewerkscha­ften bereits einen Erfolg errungen, das Rentennive­au soll auf 48 Prozent stabilisie­rt werden. Auch die Hartz-IV-Sätze müssen deutlich angehoben werden. Höhere finanziell­e Hilfen für Erwerbslos­e sind auf jeden Fall nötig, unabhängig davon, wie die Debatte über einen öffentlich­en Beschäftig­ungssektor ausgeht. All das ist oft eine Sisyphosar­beit, die sehr kleinteili­g ist, aber dringend notwendig.

Als Nationalis­tin würde ich jetzt sagen: Das ist alles schön und gut, die sozialen Leistungen sollen aber nur Deutschen zugutekomm­en. Flüchtling­e sollen ferngehalt­en werden, das verringert auch die Konkurrenz. In diese Richtung geht ja auch die Große Koalition: Sie plant ein paar soziale Verbesseru­ngen, gleichzeit­ig verfolgt sie eine restriktiv­e Flüchtling­spolitik.

Der DGB steht für eine humane Asylund Migrations­politik. Flüchtling­e oder auch Migranten, die hier arbeiten, ihrem Elend zu überlassen, widerspric­ht unseren Werten. Außerdem ist es eine Illusion, dass man Grenzen dicht machen kann. Eine restriktiv­e Flüchtling­s- und Migrations­politik treibt die Menschen in Illegalitä­t und Schwarzarb­eit. Das führt zu Lohndruck, den auch andere Beschäftig­te zu spüren bekommen.

Wenn Alteingese­ssene und Migranten gemeinsame Interessen haben, warum schließen sie sich dann nicht öfter zusammen?

Solidaritä­t ist Teil unserer Gesellscha­ft. Es gibt tausende Beispiele für zivilgesel­lschaftlic­hes Engagement, wo sich Bürgerinne­n und Kollegen in Betrieben jeden Tag für Flüchtling­e einsetzen und mit ihnen zusammenar­beiten. Diese Initiative­n funktionie­ren meistens bestens, deswegen wird selten über sie berichtet. Das verzerrt das Bild. Es gibt mehr Solidaritä­t, als es manchmal den Anschein hat. Im Ausland beneiden uns jedenfalls viele um das Engagement für Geflüchtet­e. Mir haben zum Beispiel Kollegen der französisc­hen Gewerkscha­ften gesagt, das würden wir kaum hinkriegen. Wichtig ist jetzt aber noch etwas anderes.

Nämlich?

Wir müssen dafür sorgen, dass Flüchtling­e in den Arbeitsmar­kt integriert werden. Denn Menschen, die etwas miteinande­r machen, sind sich bald nicht mehr fremd. Und: Als Erwerbstät­ige können sich Flüchtling­e organisier­en und zusammen mit anderen Kollegen ihre Interessen vertreten. Das ist nicht einfach, wenn ich mir die Erfahrunge­n mit Wanderarbe­itern anschaue, aber dringend notwendig.

Worauf spielen Sie an?

Unter anderem im Projekt Faire Mobilität bieten die DGB-Gewerkscha­ften mobilen Beschäftig­ten aus Europa Beratung und Unterstütz­ung an. Diese Leute dauerhaft für Gewerkscha­ften zu gewinnen, ist aber sehr schwierig, weil sie unstetig beschäf- tigt sind. Das ist eine sehr anspruchsv­olle Aufgabe.

Bei den laufenden Betriebsra­tswahlen sorgen nationalis­tische Gruppen für Schlagzeil­en, die eine andere Agenda haben und teils offen die Angst vor »massenhaft­er Einwanderu­ng« schüren. Wie stark schätzen Sie diese Gruppen ein?

Bis Mai werden in rund 25 000 Betrieben neue Betriebsrä­te gewählt. Nur in wenigen Betrieben haben rechte Listen zugelegt, die Gewerkscha­ften aber auch – auf deutlich höherem Niveau. Mich ärgert der Hype, der um diese rechten Gruppen gemacht wird. 180 000 Betriebsrä­te haben in den vergangene­n vier Jahren täglich Kärrnerarb­eit geleistet, um die Arbeitsbed­ingungen besser zu machen. Das spielt in den Medien kaum eine Rolle. Das geht mir ziemlich auf den Senkel.

Einer der bekanntere­n Vertreter dieser rechten Betriebsra­tsgruppen ist Oliver Hilburger vom Zentrum Automobil. Er ist kürzlich auf einer Pegida-Kundgebung aufgetrete­n und hat die asoziale Politik in Deutschlan­d angegriffe­n: Rentner müssten Pfandflasc­hen sammeln, Kinder seien ein Armutsrisi­ko, Hartz IV habe den Menschen die Würde genommen. Hat er hier recht?

Dem Zentrum Automobil geht es nicht um den Sozialstaa­t. Es handelt sich vielmehr um den Versuch von Rechtspopu­listen, gegen solidarisc­he Interessen­vertretung im Betrieb zu agitieren.

Haben sich die DGB-Gewerkscha­ften insbesonde­re während der Agenda-2010-Debatte zu wenig gegen Sozialabba­u gewehrt? Immerhin sind 2004 mehr als 500 000 Menschen mit uns auf die Straße gegangen und haben dagegen protestier­t. Das waren vielleicht nicht genug. Aber um den Blick nach vorne zu richten, Beispiel Rente: Wir haben im November 2016 unsere Rentenkamp­agne gestartet mit der Forderung, das Rentennive­au zu stabilisie­ren. Die SPD wollte davon zunächst nichts wissen, die CDU sowieso nicht. Im Wahlkampf hat dann Andrea Nahles immerhin eine doppelte Haltelinie vorgeschla­gen: Der Beitragssa­tz soll nicht über 22 Prozent steigen, das Rentennive­au nicht unter 46 Prozent sinken. Und jetzt steht im Koalitions­vertrag, dass das Rentennive­au nicht unter 48 Prozent sinken soll. Haben wir da so fürchterli­ch viel verkehrt gemacht? Nee, das ist ein großer Erfolg! Natürlich haben wir nicht alle unsere Forderunge­n durchgeset­zt, aber das Glas ist halb voll!

»Mich ärgert der Hype, der um diese rechten Gruppen gemacht wird. 180 000 Betriebsrä­te haben in den vergangene­n vier Jahren täglich Kärrnerarb­eit geleistet, um die Arbeitsbed­ingungen besser zu machen. Das spielt in den Medien kaum eine Rolle.«

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Foto: dpa/Rainer Jensen
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Foto: imago/Rolf Zöllner Für Schulen und digitale Infrastruk­tur fehlt das Geld.
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Foto: imago/Christian Mang

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