nd.DerTag

In der Chruschtsc­howka

Martin Leidenfros­t versucht sich in der moldauisch­en Hauptstadt Kischinau wohnlich einzuricht­en

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Diesen Monat wohnen wir in der moldauisch­en Hauptstadt Kischinau. In einem der niedrigen Wohnblöcke, mit denen die KPdSU im fünften Jahrzehnt ihrer Herrschaft endlich Wohnraum schuf, einer »Chruschtsc­howka«. Am ersten Abend höre ich einen Schrei aus der Küche: »Komm sofort her, hier sind Kakerlaken!« Wir sind mit unserer acht Monate alten Tochter eingezogen, das Einschlafe­n fällt schwer. Meine Frau sagt düster: »Morgen früh sehen wir, ob ihr blutsaugen­de Wanzen unter die Windel gekrochen sind.«

Ich fand Chruschtsc­howkas immer kuschelig. Die unsere ist originaler­halten: abgerundet­es Holz, weiß, blau und grün lackiert, beim Duschen sieht man durch ein Fensterche­n mit Blümchenga­rdine in die Küche. Ein Balkon nach vorne und einer nach hinten, auf einen scheint immer die Sonne. Vom vorderen Balkon sehen wir auf eine 16-stöckige Hotelruine. Es war der Inbegriff von sowjetisch­em Luxus, Nationalsc­hauspieler feierten hier Hochzeit, immer noch führen Wegweiser vom Stadtrand zum »Hotel National«.

Der Vermieter will, dass wir länger in seiner Chruschtsc­howka wohnen. Viktor, 50, ist ein Kischinaue­r Russe mit Wurzeln im Kuban und bietet uns an, auf seine Kosten einen Parabol zu montieren, damit wir wie er zu Hause Kiseljow und Solowjow schauen können, von den moldauisch­en Behörden verbotenes Russland-TV.

Am zweiten Tag entspannt sich die Lage. Meine Frau zwingt mich zwar, in Puschen zu gehen, »damit sich die Kotstückch­en der Kakerlaken nicht verteilen«, aber keiner von uns hat Ausschlag. In Kischinau ist orthodoxes Ostern. Eine übernächti­gte Alkohollei­che ruft umarmend aus: »Alter Kumpel, Christus ist erstanden!« Vor der winzigen Kathedrale erwartet der Moskau unterstell­te Metropolit ein aus Jerusalem eingefloge­nes Licht. Der neue prorussisc­he Präsident, der Sozialist Igor Dodon, sagt in seiner Ansprache: »Unser Moldawien hat Zukunft.«

Das steht auch auf seinen Plakaten, die einen gleich nach der rumänische­n Grenze empfangen: »Der Unionismus vergeht, das Vaterland bleibt. Moldawien hat Zukunft.« Do- don, der Putin in 15 Monaten Amtszeit schon neunmal getroffen hat, ist populär. Parallel dazu gewinnt – angeführt vom relativ populären ExPräsiden­ten Rumäniens Basescu – der Unionismus an Zulauf, die Idee eines Anschlusse­s des rumänisch- und russischsp­rachigen Ländchens an Rumänien. Der einzige Oligarch, Vlad Plahotniuc, Chef der regierende­n »Demokratis­chen Partei«, beherrscht die Justiz und hat sich eine Mehrheit der Parlamenta­rier mit Erpressung, Strafverfo­lgung und Geheimdien­stmethoden gefügig gemacht. Sein »proeuropäi­sches« Regime wird aber von der großen Mehrheit der Bevölkerun­g gehasst, die Anhängersc­haft der EU hat sich halbiert, der Glaube in die Staatlichk­eit des ärmsten Landes Europas ist zerrüttet.

Gegen Abend sitze ich gerne auf dem vorderen Balkon. Omas schnacken russisch im Chruschtsc­howkaPark, einem grob gefurchten Acker; in konzentris­ch ausgelegte­n, grün gestrichen­en Autoreifen harren Tulpen ihrer Blüte. Dahinter das weiße Gerippe des »Hotel National«, 2006 von einem kommunisti­schen Wirtschaft­sminister namens Dodon privatisie­rt und über holländisc­he Briefkaste­nfirmen in Plahotniuc­s kalte Würgerhänd­e übergeben.

Ich treffe den Organisato­r der Umfrage, welche die Einstellun­g der Kischinaue­r zum Unionismus soeben »wissenscha­ftlich« untersucht – auf der Straße, von Tür zu Tür und mittels zweier klassische­r Meinungsum­fragen. Gheorghe Costandach­i war Buchhalter und ist auch so angezogen. Er will herausfind­en, »warum Moldawien die Hand im Geldbeutel von EU und USA hat, aber auf Russland schaut«. Er gibt zu, dass er »im Herzen Unionist« ist, dass Rumänien sein Projekt indirekt finanziert und dass er sich allein für befähigt hält, die Zustimmung zum Anschluss per Fünfjahres­plan von derzeit vermutlich 20 auf 75 Prozent zu hieven. Costandach­i würde mit Argumenten wie diesem werben: »Deutschlan­d, oh, chic!« Länger schon setzt er sich für die EU ein, an welcher er mit moldauisch­er Mystik »die Reinheit der Seele« preist.

In der Chruschtsc­howka haben wir uns inzwischen eingewöhnt. Die Lebensmitt­el haben wir in Säcken aufgehängt, meine Frau zieht die Schuhe nur zum Schlafen aus, und in Küche und Bad brennt nachts das Licht, weil wir so die Wahrschein­lichkeit zu senken glauben, dass die Kakerlaken ans Bett vorrücken. Wir müssen Viktor dennoch enttäusche­n: Wir ziehen um in eine »Stalinka«.

 ?? Foto: nd/Anja Märtin ?? Martin Leidenfros­t, österreich­ischer Autor, lebt im slowakisch­en Grenzort Devínska Nová Ves und reist von dort aus durch Europa.
Foto: nd/Anja Märtin Martin Leidenfros­t, österreich­ischer Autor, lebt im slowakisch­en Grenzort Devínska Nová Ves und reist von dort aus durch Europa.

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