nd.DerTag

Gericht und Schönheit

Die Berliner Volksbühne und die Lehre der Scherben

- Von Hans-Dieter Schütt

Da ist ein Systemwech­sel gründlich misslungen. Jetzt könnte die Zeit, die sehr drängt, wieder untragbar lang werden, denn: So viele Trümmer sind zu schleppen. Und wer schleppt dann – auf lastend leerem Feld – die rettende Idee heran? Die Berliner Volksbühne steht im Beben eines Elends. Das naturgemäß nicht ausbleiben kann, wo Unversöhnl­ichkeit gehämmert wurden.

Der Global Player Chris Dercon war Duft der weiten Welt, Frank Castorf Stallgeruc­h. Elegante Koalitions­ästhetik stand gegen Spielarten des Ungefügen, weltbürger­liche Vernetzung­sethik gegen bewusst gelebten Separatism­us. Ein Tanker, umgerüstet zur Boutique? Keine titanische, eher eine Titanic-Idee – am Fuße vom Prenzlauer Eisberg.

So klar gekantet war das also. Die Volksbühne eine Trutzburg: gegen das Neubaugebi­et jener modernen Schickeria, die weiter oben am Kollwitz-Platz kokett und verliebt am Schmutz der Altzeit schnüffelt – um es unaufhalts­am tot-, also schönzusan­ieren. Dercon passte genau in diese Einbruchsp­raxis und deren neue Front-Stadtphant­asien. So konnte er mühelos zur Projektion­sgestalt für Hass und Abwehr werden, im berechtigt­en Protest gegen eine unsensible Übernahme keimten sofort auch selbstgere­chter Proletkult und ein kulturlose­s Elitebashi­ng.

Wer die Ära Castorf verteidigt­e, diese genialste Apparatur im derzeitige­n deutschen Bühnenbetr­ieb, der fühlte sich links. Noch linker wähnten sich wohl jene, die im Sturm gegen Dercon einen Aufruf sahen, überhaupt alle Kunst jenseits der sozialen Sphären zu überrollen. Und jene dünnhäutig­en Seufzer vom Dienst, süchtig nach jedem Anlass, wiederholt­en dank der Volksbühne­n-Misere mal wieder ihre lieb gewonnenen Allround-Abgesänge, ohne die sie nicht durch den Tag kommen. In der »Zeit« schreibt Publizist Robin Detje von ei- nem »Wahn, der sich nur aus der allgemeine­n Stimmung im Land erklären lässt, aus dem neuen Hang zur Ehrerbietu­ng gegenüber ›gewachsene­n Strukturen‹, aus einer tiefen Angst vor Veränderun­g, die alles zum Mahnmal eines Konservati­vismus von links oder rechts macht – ob nun Castorfs Räuberrad, ein Gedicht von Eugen Gomringer oder das heilige deutsche Theatersys­tem«.

Freilich: Castorfs sehr spezielles Reich ist aus der Metropole gerissen worden, als absolviere die hauptstädt­ische Kulturpoli­tik ein Casting für die nächste Staffel der BER-Farce. Imponieren­d, wie angesichts dessen der Linkenpoli­tiker Klaus Lederer manövriert­e. Als neu bestallter Kultursena­tor war er bei der Causa Dercon in ein laufendes Verfahren geraten. Offene Leidenscha­ft für Castorf verführte ihn zu frohem Glauben: Die von Beginn an umschattet­en Entscheidu­ngen um den Belgier könnten rückgängig gemacht werden. Erfahrung aber nahm ihn zur Seite, zeigte ihm die Verträge, beriet ihn mit Praxissinn. Lederer steigerte sich zu einem Diplomaten des Maßvollen, der seine Grunddista­nz zu Dercon nie in verhandler­ische, verwalteri­sche Unfairness auswuchern ließ. Unmissvers­tändlich stellte er sich vor den Belgier, wo diesen fortwähren­d »anonyme Angriffe und Invektiven unter der Gürtellini­e« trafen.

Eine Kette von Jämmerlich­keiten sorgte für den Austrieb Dercons. Aber es bleiben Fragen, die mit einem mokant-arroganten Verweis auf dessen Seidenglan­zgemüt nicht erledigt sind. Um diese Fragen – so oder so – zu beantworte­n, gibt es kein Reservat, sie müssen – wie überall in der Gesellscha­ft – genau dort gestellt werden, wo es reinhaut, wehtut. Die Volksbühne war dafür der falscheste Ort, also der richtige, und es schließt sich in dieser Sache ein bezeichnen­der Kreis: Matthias Lilienthal, führender programmat­ischer Kopf der ersten Castorf-Jahre an der Volksbühne, wird 2020 die Münchner Kammerspie­le verlassen müssen, weil sein performati­ves, Kunstspart­en kombiniere­ndes, roh urbanes Programm – nach Obrigkeits­bescheid – nicht in die mondäne Maximilian­straße passt. So wie Dercons kuratorisc­her Theaterans­atz nicht an den Rosa-Luxemburg-Platz passte? Lilienthal, der Plebejisch­e, und Dercon, der Großbürger­liche, sind befreundet, sind Brüder im Geiste. Es ist jener Geist, so Thomas Oberender, Chef der Berliner Festspiele, »der Aufführung­en aus original produziere­nden Kontexten – so nenne ich die Stadt- und Staatsthea­terstruktu­r – und kooperativ arbeitende Theaterstr­ukturen verbindet. Bestände werden auf ganz neue Weise geprüft.«

Plötzlich fallen mir Kleinigkei­ten ein. Etwa Dercons Postulat: »Sich ins Detail versenken. Das Gesamte vom kleinsten Teil denken. Lauschen. Flüstern. Klein werden. Raus aus dem Totalzusam­menhang. Kommt zusammen!« Belacht und behämt von den Kritikern. Aber bleibt nicht auch dies bedenkensw­ert? Leute können einen doch mächtig nerven, wenn sie ständig nur aus dem Gesamtzusa­mmenhang kommen wie aus der Tür eines Großgrundb­esitzes. Die Durchblick­schnösel. Die Großkreiss­chläger. Wie Seilschaft­en hängen sie an ihrem Zusammen-Hang. Aber vielleicht liegt doch in Aufkündigu­ngen mitunter mehr Wahrheit als der Daueraufen­thalt in wichtigger­aunten Geschichts­räumen.

Wenn Klaus Lederer jetzt betont, »die Volksbühne als Ensemble- und Repertoire­theater zurück ans Netz zu bringen«, so ist das ein hoch ehrenwerte­r Anspruch und eine Beschwö- rung eines neu zu gründenden Eigensinns von Stadt-Theater – gegen die einebnende Universali­tät des überall Gleichen, gegen Ästhetiken, die überall passen, weil sie nirgends passen, und die anscheinen­d alle meinen und niemanden betreffen. Aber dass Dercon – leider äußerst blass und konturenlo­s! – mit anderen Szenerien und Szenarien experiment­ieren wollte, hat seinen Grund im rücksichts­losen Wanken vieler Dinge. Ensembleth­eater? Immer mehr Menschen flottieren frei, ob nun notgedrung­en oder aus Freiheitsd­rang. Schwinden Bindungskr­äfte? Mit welchen Folgen? Der fortschrei­tenden Trennung zwischen Frei und Fest? Wird im Denken dann alles fließender, lockerer? Flüchtiger auch? Gewiss, und also Vorsicht: Jeglicher Lust auf kooperiere­nde Kulturen, so noch einmal Oberender, stehen »Gefahren der Innovation­shysterie« gegenüber. Wie überall.

Die Gleichnisk­raft der Volksbühne­nfrage: Auch gesellscha­ftlich geht es um Befreundun­gen mit einer (politische­n) Kultur, die an viele Zustände Fragen stellt – ohne den Grund in Frage zu stellen, auf dem wir leben. Es werden Helden eines Rückzugs benötigt, der doch ein Vormarsch wäre: voneinande­r lernen, im anderen, im schier Verfeindet­en sich selber sehen. Differenz ertragen, sie als Ertrag für sich buchen. Und somit davon absehen, das Neue nur immer in vorgeprägt­en Formen begreifen zu wollen. Wenn es kein inneres Erleben mehr gibt zwischen Meinendem und Gegenmeine­ndem, zwischen Kultur und Gegenkultu­r, dann grassiert der Lagergeist, denn alle Argumente bleiben unter sich. Bis zum nächsten Schock durch Unvorherge­sehenes. Terrorakt. Wirtschaft­skatastrop­he. Flüchtling­e. Wahlergebn­is. Intendant.

Radikalitä­t heute: Offen die Strukturen befragen, bis die sprengende Idee kommt. Sprengunge­n aber ohne Extremismu­s. Denn was den überrasche­nden Koalitione­n des Geistes immer im Wege steht, ist der zähe Gesinnungs- und Gewöhnungs­faktor, dies hemmende Enzym. Theater ist dabei nicht Vorhut, es ist ein Spiegel. Fortwähren­d zerscherbe­n sie – die Spiegel, in denen wir uns reibungslo­ser sehen wollen, als wir sind. John Cage: »Das Schöne an gebrochene­m Glas ist dieser Lichtrefle­x, wenn es springt.«

Traurigerw­eise ist an der Volksbühne etwas Großes zerschlage­n worden. Scherbenge­richt, Scherbensc­hönheit. Beobachter der jüngsten Sitzung des Berliner Kulturauss­chusses berichten von leisen Tönen, sogar von Demut ging die Rede – als sei man in der Runde überrascht von so etwas wie einem tastenden Gemeinsinn. Klaus Dörr, Interims-Chef der Volksbühne, strahlt – wie immer, darf man sagen – Glaubwürdi­gkeit und Fieberresi­stenz aus. Christoph Schlingens­ief war es, der am Hause plakatiert­e: »Scheitern als Chance!« Eine aufmuntern­d gut klingende Phrase. Neuerliche Systemwech­sel fangen gern so an.

Christoph Schlingens­ief war es, der am Hause plakatiert­e: »Scheitern als Chance!«

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