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Rückkehr nach Montargis

Im »Venedig der Loiret« erinnert sich Barbara Thalheim an Bobo aus Senegal und erfährt die erstaunlic­he Geschichte einer befreundet­en Familie

- Von Barbara Thalheim

Es war am 7. Oktober 2001 – Welttag für menschenwü­rdige Arbeit –, als ich gemeinsam mit Jean Pacalet auf einer Reise nach Paris in Montargis hängen blieb. Eine Stadt mit knapp 15 000 Einwohnern, hoher Emigranten­anteil, 100 Kilometer südöstlich der französisc­hen Hauptstadt, auf dem Plateau du Gâtinais gelegen. Mein Auto streikte. Die Menschen der Stadt, in die wir geraten waren, auch.

Die Gewerkscha­ft CGT hatte landauf, landab zu Demos für die »SansPapier­s« (MigrantInn­en ohne geregelten Aufenthalt­sstatus) aufgerufen. Der Demonstrat­ionszug in Montargis formierte sich gerade, als mich jemand an der Schulter packte, in afrikanisc­hem Französisc­h auf mich einredete, nicht bemerkend, dass ich kein Wort verstand, und mich zwischen dunkelhäut­igen Menschen hindurch in die erste Reihe des Demonstrat­ionszuges direkt hinter die Banderole schob. Man bedeutete mir, beide Hände in die Tragegriff­e des Transparen­tes zu stecken, und schon marschiert­en wir los. Ich in der Mit- te, neben einem der Bosse der CGT. Zumindest ließen das die auf ihn gerichtete­n Kameras und Mikrofone der Journalist­en vermuten. Links und rechts von uns weitere Menschen, die am zehn Meter breiten Spruchband mittrugen. Darauf stand in etwa: »Ohne uns geht Frankreich­s Wirtschaft in die Knie! Leben in Frankreich legalisier­en! Sonst geht IHR mit uns unter.«

Meine Versuche, mich aus dieser misslichen Situation zu befreien, scheiterte­n. Immer verhindert­e jemand hinter mir, dass ich mich aus dem Staub machen konnte. Nach eineinhalb Stunden strammem Marschiere­ns durch und um die Stadt herum war der Spuk für mich vorbei.

Pacalet und ich suchten nach einem Internetca­fé, um Autowerkst­att und Übernachtu­ng zu finden. Dort, wo Montargis, das »Venedig der Loiret«, seinen Charme längst eingebüßt hat, in den ghettoisie­rten Neubauquar­tiers, wurden wir fündig. Am Computer neben mir saß ein junger Afrikaner, Bobo aus Senegal, der natürlich auch auf der Demo war. Seit vier Jahren war er in Frankreich, teil- te sich ein Zimmer mit vier Landsleute­n, lebte von Gelegenhei­tsjobs, ohne Krankenver­sicherung und die Hoffnung auf Legalisier­ung seines Status. Da wusste ich noch nicht, dass ich zwei Jahre später auf der »Sklavenins­el« Goree im Atlantik vor den Toren Dakars seine Familie kennenlern­en würde, zehn Leute, die eine Hoffnung verband. Sie hieß: Bobo in Europa! Bei Freunden in der Fremde

Barbara Thalheim reist derzeit allein durch Frankreich. Von den Menschen, denen sie dort begegnet, erzählt die Liedermach­erin in dieser Kolumne. Alle Texte unter dasnd.de/thalheim

Mittlerwei­le kenne ich in Montargis jedes Bild in den Museen, jedes Café, in das man lieber nicht gehen sollte, jede Parkbank, die beiden Supermärkt­e und alle Mitarbeite­r des Tourismusb­üros. Auch Laurent und Brigitte Mellot lernte ich kennen, einen Landwirt und seine Frau aus Saint-Germain-des-Prés bei Montargis. Die Namensglei­chheit mit dem Pariser Quartier der Existenzia­listen ist Zufall und den meisten Bewohnern des Dorfes vielleicht gar nicht bewusst. Und da bin ich jetzt wieder, in Saint-Germain-des-Prés, bei Brigitte und Laurent. Im April 2018, auf der ersten Etappe meiner dreimonati­gen Frankreich­reise.

Der alte Bauer Philippe, Vater von Laurent, ist vor zwei Jahren gestorben. Ich mochte ihn. Irgendwann hatte er altersbedi­ngt seinen Vornamen eingebüßt und hieß fortan selbst für den Briefträge­r nur noch Papy. Wenn er mich sah, bat er mich ins Haus, um mir noch und noch einmal die Geschichte von Fritz, Hans und Peter, »seinen« deutschen Kriegsgefa­ngenen im Zweiten Weltkrieg, zu erzählen. Und jedes mal ergänzte Mami, seine Frau, dass die Deutschen trotz des strengen Verbotes bei den Mahlzeiten mit am Familienti­sch aßen. In den deutschen Wirtschaft­swundernac­hkriegsjah­ren kamen Fritz, Hans und Peter dann in fabrikneue­n VWKäfern vorgefahre­n, um ihren Freunden, Freundinne­n und Ehefrauen den Mann zu präsentier­en, bei dem sie es den Umständen entspreche­nd gut hatten im Krieg.

Papys Sohn Laurent, geboren in den 50er Jahren, erzählt von seiner und seines Bruders Kindheit in dem imposanten Jagdschlos­s, das seit über zwei Jahrhunder­ten Familienbe­sitz ist. Er erzählt von seiner Mutter, die als einzige Tochter einer reichen französisc­hen Gutsherren­familie mit Schloss, Gesinde, Gutsverwal­ter und Jagdverein­en mit einem Tagelöhner durchbrann­te, dem Mann, der sein Vater wurde und ein halber Analphabet war. Laurents Großeltern haben ihre Tochter, seine Mutter, deshalb enterbt, so heftig war der Zorn über die nicht standesgem­äße Verbindung. Aber die Ehe hielt und war wohl bis zum Schluss eine glückliche.

Papy hat Geld und Ländereien nach dem Tod seiner Schwiegere­ltern zusammenge­halten. Nun lebt seine Witwe allein im Erdgeschos­s des Jagdschlos­ses wie in einer Filmkuliss­e. Jahrhunder­tealte Möbel, blinde Spiegel, Kamine, Stofftapet­en, Marmorflie­sen, die es schon lange nicht mehr im Kiesbett hält, knirschen und wackeln bei jedem Schritt durch die Empfangsha­lle. Sie erzählen von einer anderen Epoche, einer anderen Welt. Aber nicht vom Krieg. Denn Krieg fand hier nicht statt, obwohl Verdun nur 200 Kilometer entfernt ist.

An dem großen alten Tisch im Schloss sitzen drei Generation­en; Mami, Laurent und Brigitte und deren erwachsene Kinder. Ich muss ein bisschen weinen nach der Liebesgesc­hichte von Mami und Papy und halte frech mein Cognacglas zum Nachfüllen hin.

Und was haltet ihr von Macron, frage ich, um das Thema zu wechseln? Plötzlich wollen alle den Tisch abräumen. »Na, besser als der vorherige«, meint Marc, der Sohn von Laurent und Brigitte. Mehr gibt es dazu offenbar nicht zu sagen.

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