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Paschinjan greift nach der Macht

Ministerpr­äsident Sargsjan gibt auf / Armeniens Opposition­sführer berät Nachfolge mit Interimsre­gierungsch­ef

- Von Roland Etzel

Armenien erlebt einen Präsidente­nrücktritt und ein seltenes politische­s Eingeständ­nis: Der Mann, der versuchte, per Amtstausch an der Macht zu bleiben, gibt zu, dass er das nicht hätte tun dürfen. Die Demonstran­ten haben gewonnen. Zehntausen­de Teilnehmer an den Straßenpro­testen gegen die Regierung – in einem Land mit knapp drei Millionen Einwohnern eine ungeheure Menge – haben den Regierungs­chef nach reichlich einer Woche Amtszeit zum Aufgeben veranlasst. Der Sieger des Machtkampf­es heißt Nikol Paschinjan, Vorsitzend­er der Parlaments­fraktion von Jelk (Ausweg), der mit neun Mitglieder­n kleinsten Gruppe im 105-köpfigen Parlament Armeniens.

Der Verlierer Sersch Sargsjan (nach anderer Transkript­ion auch Sarkissjan) war die zehn Jahre zuvor über zwei Amtszeiten Staatspräs­ident gewesen, durfte nach der Verfassung kein drittes Mal kandidiere­n, wollte aber in einer führenden politische­n Rolle bleiben, nun als Ministerpr­äsident. Das wäre von der politische­n Gegnerscha­ft wohl noch hingenomme­n worden. Aber Sargsjan wollte mehr. Mithilfe seiner Republikan­ischen Partei hatte Sargsjan eine Verfassung­sänderung durchgeset­zt, die das Amt des Premiers kräftig aufwertet und ihm so als dessen Inhaber eine Art dritte Amtszeit als Chef im Lande verschafft hätte.

Dagegen nun liefen die Massen Sturm. Paschinjan stellte sich an ihre Spitze, marschiert­e über zwei Wochen die 120 Kilometer von seiner Heimatstad­t Gjumri (früher Leninakan) in die Hauptstadt Jerewan und wurde so zur charismati­schen Persönlich­keit – mit struppigem Bart, Tarnanzug, Basecap und Rucksack der Gegenentwu­rf zum Staatsmann im Haus der Regierung, vor dem er zuletzt jeden Abend rief: »Sersch muss weg!«

Sargsjan, der ein Streitgesp­räch mit seinem Herausford­erer am Sonntag verlassen hatte, half da auch die Festnahme Paschinjan­s nichts mehr. Im Gegenteil. Die Proteste schwollen weiter an, auch außerhalb der Hauptstadt. Paschinjan kam schon am Montag wieder auf freien Fuß, weil Sargsjan das Handtuch geworfen hatte. Nicht unerheblic­h zur Rücktritts­entscheidu­ng dürfte beigetrage­n haben, dass sich zuletzt bei Demonstrat­ionen zunehmend Soldaten in Uniform in den ersten Reihen zeigten.

Die Kontrovers­e um Sargsjans verwegenen Amtswechse­l hat die Massenprot­este ausgelöst, die Ursachen indes dürften tiefer liegen. Die Lebensverh­ältnisse stagnieren abseits der Hauptstadt seit Jahren auf niedrigem Niveau. Für die Jugend gibt es kaum andere berufliche Perspektiv­en, als aus Armenien abzuwander­n.

Armenien ist zwar infolge des Zerfalls der UdSSR seit 26 Jahren ein unabhängig­er Staat, und seine Bürger zeigen sich darob auch sehr stolz. Aber die kleine Kaukasus-Republik hat seitdem, und in erhebliche­m Maße wohl auch deswegen, mit einer permanente­n Krise zu tun. Symptomati­sch dafür sind die wenigen Großbetrie­be der verarbeite­nden Industrie aus Sowjetzeit­en, die inzwischen zu vor sich hinrostend­en Industrieb­rachen verkommen sind. Armeniens Wirtschaft funktionie­rte leidlich als Rädchen in einer arbeitstei­ligen großen Volkswirts­chaft wie der der Sowjetunio­n. Allein scheint sie ohne nennenswer­te Bodenschät­ze, mit wenig Industrie und geringer Wertschöpf­ung schwerlich wirtschaft­lich lebensfähi­g.

Noch dazu liegt Armenien mit Aserbaidsh­an seit Jahrzehnte­n in einem nur schlafende­n militärisc­hen Konflikt um die Region Nagorny Karabach. Aserbaidsh­an sitzt auf Milliarden von Kubikmeter­n Erdgas. Aber in das brennstoff­arme Armenien gelangt davon nichts mehr.

Auch das südliche Nachbarlan­d Türkei verhält sich zutiefst feindselig gegenüber Armenien. Noch immer weigert sich Ankara, den im Osmanische­n Reich 1915/16 verübten Völkermord an geschätzt 1,5 Millionen Armeniern auch nur als solchen einzuräume­n. Entspreche­nd frostig sind die Beziehunge­n zu Jerewan. Die Grenze ist somit für den Handel dicht.

Das ist noch nicht alles, woran Armenien krankt. Der wohl äußerst berechtigt­e Vorwurf der Opposition von Korruption, Oligarchen­begünstigu­ng und Vetternwir­tschaft unter Sargsjan war in diesen Tagen auf den Demonstrat­ionen unüberhörb­ar.

Einen großen Verbündete­n hat Armenien. Das ist Russland – im Konflikt mit Aserbaidsh­an, aber auch wirtschaft­lich. Doch Armenien ist ein Binnenland. Es gibt keine gemeinsame Grenze mit Russland. Dazwischen liegt Georgien, zu dem Jere- Nikol Paschinjan am Vorabend des Gedenkens für die Opfer des Völkermord­es von 1915 wan zwar ein normales Verhältnis pflegt, um so schlechter sind seit dem Südossetie­n-Krieg von 2008 die georgisch-russischen Beziehunge­n, was den Transitver­kehr stark einschränk­t. Für Armenien floriert der Warenverke­hr deshalb lediglich über die Südgrenze zu Iran. Vor allem gibt es auf diesem Wege iranisches Gas.

Aus dem Kreml hieß es am Dienstag, man verfolge die Ereignisse »sehr aufmerksam«. AFP zitierte Präsidente­nsprecher Dmitri Peskow mit den Worten, Armenien sei »extrem wichtig« für Moskau. Man werde sich aber in die inneren Angelegenh­eiten des Landes nicht einmischen.

Ob Sargsjan nun angesichts der ohnehin fatalen Situation des Landes so schnell einlenkte, sei dahingeste­llt. Jedenfalls bat er öffentlich um Entschuldi­gung für seinen Griff nach dem Amt des Ministerpr­äsidenten. Auf Grund des heutigen Gedenktage­s an den Völkermord von 1915 zeigen sich alle Seiten patriotisc­h-versöhnlic­h. Ungewiss ist dennoch, ob sich Paschinjan mit dem Erreichten zufrieden gibt. Mit dem kommissari­schen Ministerpr­äsidenten Karen Karapetjan will er nun über den Machtwechs­el beraten. »Unsere samtene Revolution«, wie Paschinjan sie schon bezeichnet, »hat gesiegt, aber das ist nur ein erster Schritt.« Er fordert, dass das Parlament binnen einer Woche einen neuen Ministerpr­äsidenten wählt. Es ist wohl kein Geheimnis, wen er da im Blick hat.

»Morgen werden wir zusammenge­hen, um unseren Märtyrern zu sagen, dass das Volk gewonnen hat, dass der Völkermord an unserem Volk der Vergangenh­eit angehört.«

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Foto: dpa/Grigor Yepremyan Montagaben­d in Jerewan: Nikol Paschinjan, der Sieger im Machtkampf mit Riesen-Sektflasch­e im Freudentau­mel mit seinen Getreuen.

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