nd.DerTag

Ehrenmord und politische »Säuberung«

In Tschetsche­nien herrscht ein Regime des Schreckens

- Von Bernhard Clasen

Seit dem Ende der beiden Tschetsche­nien-Kriege von 1994 bis 1996 sowie 1999 bis 2009 und dem Abzug der russischen Militärs herrscht Ruhe in der nordkaukas­ischen Teilrepubl­ik. Friedhofsr­uhe. »Tschetsche­nien«, so die Direktorin des in Moskau ansässigen Conflict Analysis and Prevention Centre, Ekaterina Sokiriansk­aia, gegenüber »nd«, ist »zur schrecklic­hsten europäisch­en Enklave geworden«. Tanya Lokschina, Direktorin des Russland-Programms von Human Rights Watch bestätigt: Mit brutaler Gewalt gehe Republikch­ef Ramsan Kadyrow gegen seine Kritiker vor. Seit über einem Jahrzehnt, so Lokschina, löse Ramsan Kadyrow jeglichen Dissens durch Vernichtun­g der Gegenseite, habe er eine Tyrannei errichtet. Entführung­en, spurloses Verschwind­en missliebig­er Kritiker und Folter in den Gefängniss­en sind die Handschrif­t dieses Regimes.

Mehrfach berichtete die russische Zeitung »Nowaja Gazeta« von Folter und Hinrichtun­gen Homosexuel­ler in Tschetsche­nien. Nach Angaben des russischen LGBTNetzwe­rkes sind seit März 2017 in Tschetsche­nien Schwule massenhaft verhaftet, gefoltert und getötet worden. Frauen, »die über die Stränge geschlagen« haben oder einfach einen Mann heiraten wollen, der von ihrer Familie nicht akzeptiert wird, fliehen zu Dutzenden aus Angst vor einem »Ehrenmord« aus der Republik.

Die Diktatur in Tschetsche­nien, die sich gerne als moderne islamische Gesellscha­ft präsentier­t, fürchtet zugleich den Imageschad­en, der von Menschen ausgeht, die aus Angst die Republik verlassen haben. Vor 15 Jahren noch lebten 40 000 tschetsche­nische Flüchtling­e in der Nachbarrep­ublik Inguscheti­en. Doch Inguscheti­en schloss die Grenzen und fast alle mussten zurückkehr­en.

Der Direktor des in Baku ansässigen »Aserbaidsc­hanischen Menschenre­chtszentru­ms«, Eldar Sejnalow, erinnert sich. Auch Aserbaidsc­han, so Sejnalow, war mehrere Jahre ein wichtiger Zufluchtso­rt für tschetsche­nische Opposition­elle. Doch nach 2002 verschlech­terte sich die Lage der Tschetsche­nen in Aserbaidsc­han dramatisch. Dutzende waren von russischen Sicherheit­skräften entführt und an Russland ausgeliefe­rt worden. Aserbaidsc­han hatte diese Entführung­en zugelassen. 2008 musste die Witwe des früheren tschetsche­nischen Präsidente­n Kusama Maschadowa, Aserbaidsc­han aus Furcht um ihre eigene Sicherheit verlassen. Auch Alla Dudajewa, Witwe des ersten Präsidente­n Tschetsche­niens, Dschochar Dudajew, war in dieser Zeit aus Baku geflohen. Andere wurden, so formuliert Sejnalow, von Landsleute­n »überzeugt«, »freiwillig« in ihre tschetsche­nische Heimat zurückzuke­hren. Daraufhin sind viele Tschetsche­nen in andere Länder geflohen, nach Deutschlan­d, die Niederland­e oder Skandinavi­en.

»Es hat Auftragsmo­rde an Tschetsche­nen in der Türkei, der Ukraine und Österreich gegeben«, berichtet Ekaterina Sokiriansk­aia. »Tschetsche­nen, die nach Deutschlan­d und Tschechien geflohen sind, berichtete­n mir kürzlich von Drohungen durch Kadyrow-treue Tschetsche­nen.«

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