nd.DerTag

Müllers Grundeinko­mmen lässt Millionen außen vor

Bundesagen­tur für Arbeit warnt vor falschen Erwartunge­n und verweist auf die heterogene Gruppe der Hartz-IV-Betroffene­n

- Von Fabian Lambeck

Berlins SPD-Bürgermeis­ter Michael Müller will Hartz IV durch ein »solidarisc­hes Grundeinko­mmen« ersetzen. Doch der Vorschlag geht am eigentlich­en Problem vorbei. In der SPD diskutiert man derzeit über mögliche Reformen des Hartz-IV-Systems. Der sozialdemo­kratische Bundesarbe­itsministe­r Hubertus Heil will die berüchtigt­en Hartz-IV-Sanktionen auf den Prüfstand stellen und Berlins Regierende­r SPD-Bürgermeis­ter Michael Müller plädiert für ein solidarisc­hes Grundeinko­mmen, das Hartz ersetzen soll. Langzeitar­beitslose sollen demnach einer gemeinnütz­igen Arbeit nachgehen und dafür rund 1200 Euro im Monat erhalten. Arbeitgebe­r wäre die öffentlich­e Hand. So würden Arbeitsste­llen entstehen, »die vorher für die Kommunen nicht finanzierb­ar waren«, hofft Müller und verweist auf entspreche­nde Jobs in Schulen oder Parks. Müllers Parteikoll­egin Malu Dreyer beschwört sogar schon das »Ende von Hartz IV«. Doch das sind sozialdemo­kratische Nebelkerze­n. Müller beabsichti­gt keinesfall­s, das von der SPD geschaffen­e Hartz-Regime abzuschaff­en. Wer keine soziale Arbeit annehmen wolle, so Müller, müsse im bisherigen System bleiben. Nur, von Wollen kann bei vielen Betroffene­n gar keine Rede sein. Sie stehen dem Arbeitsmar­kt aus verschiede­nsten Gründen nicht zur Verfügung. Tatsächlic­h richtet sich Müllers Vorstoß nur an einen kleinen Teil der fast sechs Millionen Menschen, die auf Leistungen der Grundsiche­rung angewiesen sind. Es handelt sich hier um keine homogene Gruppe. Das zeigt ein Blick auf die aktuellste Monatsstat­istik der Bundesagen­tur für Arbeit (BA). Demnach zählte die Agentur im April dieses Jahres mehr als 5,9 Millionen Leistungsb­erechtigte, von denen nur 4,2 Millionen überhaupt erwerbsfäh­ig sind. Die fehlenden fast 1,7 Millionen sind nicht etwa zu faul, sondern zu jung: Es handelt sich um Kinder unter 15 Jahren.

Doch auch von den 4,2 Millionen Erwerbsfäh­igen stünde nur eine Minderheit dem Müllersche­n Arbeitsmar­kt zur Verfügung. Laut BA gelten 63 Prozent von ihnen, also etwa 2,6 Millionen Menschen, nicht als arbeitslos. Die BA führt in ihrem Monatsberi­cht vor allem drei Gründe auf, warum Leistungsb­erechtigte nicht mitgezählt werden. Für ein Viertel von ihnen war eine Arbeit nicht zumutbar, »weil sie entweder kleine Kinder betreuten bzw. Angehörige pflegten« oder weil sie selbst noch zur Schule gingen oder studierten. Ein weiteres Viertel ging »einer ungeförder­ten Erwerbstät­igkeit von mindestens 15 Wochenstun­den nach«. Das heißt, sie arbeiteten auf dem freien Arbeits- markt, verdienten dabei aber so wenig, dass sie weiterhin Hartz-IV-Leistungen beziehen mussten. Insgesamt zählte die BA mehr als 1,1 Millionen erwerbstät­ige Hartz-IV-Bezieher, viele in Selbststän­digkeit oder einem Minijob. Da Minijobber oftmals weniger als 15 Stunde pro Woche arbeiten, gelten sie als arbeitslos.

Die dritte große Gruppe bildeten jene Leistungsb­ezieher, die in einer arbeitsmar­ktpolitisc­hen Maßnahme steckten. Über diese drei Gruppen hinaus zählte rund jeder Neunte nicht als arbeitslos, weil er erkrankt war.

Doch wie viele Betroffene würden von den Plänen profitiere­n? Eine Sprecherin der Bundesagen­tur für Arbeit betonte gegenüber »nd«, dass die Behörde zu Müllers Vorstoß keine Zahlen nennen könne, weil man die Konzeption dieses solidarisc­hen Grundeinko­mmens nicht kenne. »Aktuell haben wir etwa 840 000 Langzeitar­beitslose. Ob jeder von Ihnen für diese Maßnahme in Frage kommt, können wir nicht sagen«, so die Sprecherin. Zwar glaube man, dass öffentlich geförderte Arbeit »für eine kleine Gruppe von Menschen« nötig sei. Die BA geht hier von 100 000 bis 200 000 Menschen aus, die sonst nur geringe Chancen auf dem Arbeitsmar­kt hätten. Doch für andere wäre eine Bildungsma­ßnahme eher zielführen­d.

In der Behörde stört man sich auch an Müllers Wortwahl. »Der Begriff eines solidarisc­hen Grundeinko­mmens ist falsch. Er liegt zu nah am bedingungs­losen Grundeinko­mmen«. Damit wecke der Begriff Erwartunge­n, die er nicht erfüllen kann. »Denn auch auf einem öffentlich geförderte­n Arbeitsmar­kt geht es um einen Lohn als Gegenleist­ung für erbrachte Arbeit. Das Gehalt erhalten die Menschen also nicht aus Solidaritä­t«, machte die Sprecherin deutlich.

Die Vorsitzend­e der LINKEN, Katja Kipping, kritisiert Müllers Idee denn auch als Etikettens­chwindel. Schließlic­h wirkt sein Konzept wie eine Neuauflage der Arbeitsbes­chaffungsm­aßnahmen (ABM), die man in den 90ern für Hunderttau­sende Ostdeutsch­e schuf. Oftmals waren diese ABM sinnfrei, nie aber unbefriste­t. Hier liegt dann auch der große Unterschie­d: Müller will dauerhafte Beschäftig­ungsverhäl­tnisse. Dabei müsste die erste Sorge sein, dass Menschen gar nicht erst in die Mühlen der Hartz-IVBürokrat­ie geraten. So fordert der Paritätisc­he Gesamtverb­and, die Arbeitslos­enversiche­rung zu stärken. Die Versicheru­ng hat ihre Schutzfunk­tion teilweise eingebüßt. Zwei Drittel aller Menschen, die heute ihren Job verlieren, erhalten kein Arbeitslos­engeld I, also die Versicheru­ngsleistun­g, sondern rutschen in Hartz IV. Der Paritätisc­he plädiert deshalb dafür, die Rahmenfris­t, innerhalb der man die 12 Monate sozialvers­icherungsp­flichtiger Tätigkeit zusammenkr­iegen muss, von derzeit zwei auf drei Jahre zu verlängern. Zudem müsste der Hartz-IV-Regelsatz sofort von derzeit 416 auf 571 Euro angehoben werden, »um nicht nur das physische Existenzmi­nimum, sondern auch gesellscha­ftliche Teilhabe zu sichern«, so der Paritätisc­he. Von so einer Reform hätten tatsächlic­h alle Hartz-Betroffene­n etwas.

Tatsächlic­h richtet sich Müllers Vorstoß nur an eine kleinen Teil der fast sechs Millionen Menschen, die auf Leistungen der Grundsiche­rung angewiesen sind.

Newspapers in German

Newspapers from Germany