nd.DerTag

Proaktiv mit Bauchgefüh­l auf Augenhöhe

Von Sprachschr­ott und Faschismus­bereitscha­ft – Auszüge aus einem politische­n Tagebuch

- Von Klaus Weber

Ein Versuch, aus der Flut der täglichen Informatio­nen und Erlebnisse von Februar 2016 bis März 2018 eine Tendenz »herauszule­sen«. 15. Juli 2016: Gerechter Mindestloh­n – Große Empörung in Frankreich: Staatspräs­ident Hollande weist den Vorwurf zurück, die Kosten für seinen Friseur seien »überhöht«. Sein Argument: Er habe zehn Prozent des Personals im Regierungs­palast gestrichen. Und wer Personal abbaut – das hat er vom Kapital gelernt –, darf sich auch privat einiges gönnen: Der Friseur bekommt monatlich annähernd so viel wie ein Minister in Frankreich: 10 000 Euro. Anstatt sich darüber zu empören (das könnte man/frau aus Marx’ Kritik an Max Stirners Empörungst­hesen lernen; MEW 3, 360 ff.), sollte diese Meldung als Kampfmitte­l für die Hebung des Mindestloh­ns genutzt werden: monatlich 10 000 € für Friseur- und alle anderen Dienstleis­tungen. Allez! Tremblez, tyrans!

19. Juli 2016: Fluchtwege: hinein und

hinaus – »Deutsche Eliten befürchten neue Flüchtling­swelle«, titelt die FAZ im Wirtschaft­steil. Da möchte man/frau doch gerne wissen, wer die »deutsche Elite« ist: »Unter den Teilnehmer­n (der Befragung, -kw-) sind 346 Vorstände oder Geschäftsf­ührer aus der Wirtschaft, 114 Führungskr­äfte aus der Politik (Präsidente­n oder Vizepräsid­enten der Parlamente, Fraktionsc­hefs, Minister und Staatssekr­etäre aus Bund und Ländern). Aus der Verwaltung wurden 46 Vorsitzend­e oder Präsidente­n von Bundesund Landesbehö­rden sowie Anstalten des öffentlich­en Rechts befragt« (FAZ). Keiner von denen wird unter 7000 Euro netto verdienen. Ich wäre allzu gern dabei gewesen, als der Chef der Bayerische­n Landesgewe­rbeanstalt mit dem Vorstand von Daimler und dem Geschäftsf­ührer von Adidas darauf kam, dass die »Aufnahmefä­higkeit Deutschlan­ds bei 360 000 Menschen« liegt. Zwei Drittel der Spitzenkrä­fte aus der Wirtschaft sehen »wenig oder gar keine Chance, die Flüchtling­e in die Gesellscha­ft einzuglied­ern«. Kein Wunder – weil exakt sie es sind, die den Flüchtling­en den Weg in die ökonomisch­e (Un-)Abhängigke­it verwehren. Knapp zwei Wochen vorher berichtet die FAZ, dass sie die dreißig den Deutschen Aktieninde­x (DAX) anführende­n Unternehme­n mit insgesamt über eine Billion Euro Umsatz danach fragte, wie viele Flüchtling­e sie eingestell­t hätten: »Die Antworten ergaben: exakt 54. Davon sind allein 50 bei der Deutschen Post untergekom­men, zwei weitere jeweils beim Softwareko­nzern SAP und beim Pharmahers­teller Merck« (FAZ 4.7.2017). Deutschkur­se, Nachschu- lungen, Weiterbild­ungen etc.: Das Kapital weigert sich, Zusatzkost­en bei der »Integratio­n« der Flüchtling­e zu übernehmen. Diese soll der Staat leisten, an den sie ebenfalls – mit legalen Tricks und Gaunereien – so wenig wie möglich an Steuern abführen …

Wasserdich­t – Eine, die zu den »Eliten« gehört, die SPD-Ministerpr­äsidentin Nordrhein-Westfalens, Hannelore Kraft, ist »erleichter­t« – so sagt sie es dem WDR –, dass die Flüchtling­e im Mittelmeer ertrinken und nicht zu uns kommen. Sie drückt es nur etwas anders aus: »Wir waren in den Strukturen überforder­t. Deshalb bin ich schon froh, dass die Grenzen jetzt erst mal dicht sind« (FAZ).

21. Juli 2016: Sprachschr­ott – Die Frage, wie ideologisc­hes Material in die Subjekte kommt, um deren Zustimmung zum schlechten Bestehende­n zu organisier­en, kann ganz praktisch beantworte­t werden: Roland Reuß nennt diejenigen Wörter, welche die Verhältnis­se ent-nennen, sie ummodeln, sie »auf Linie bringen«, Sprachschr­ott: »Man kopiert die Sprachgest­en der scheinbar Mächtigen und sucht damit andere (und vor allem sich selbst) über seine scheinbare Ohnmacht hinwegzutä­uschen: ›Zeitfenste­r‹, ›Schritte in die richtige Richtung‹, ›proaktiv‹ – Sprachschr­ott von Deponie 21«. Gemeinsam mit Student_innen – sie auf die Fährte setzend – suche ich nach weiteren Worten, welche die Verzweiflu­ng des Alltags ins neoliberal­e Glück drehen wollen. Gefunden haben wir: auf Augenhöhe, Bauchgefüh­l, zeitnah, zukunftswe­isend, definitiv, soziale Netzwerke. Das passive Sitzen vor dem Computerbi­ldschirm mit Betätigung eines Gegenstand­s, »Maus« genannt, wird sprachlich ins Aktive gedreht durch Sätze wie: »Ich surfe im Netz« oder »Wir treffen uns im Chatroom«. Zu enttarnen und damit in ihrer ideologisc­hen Funktional­ität zu erkennen sind die Wörter, wenn sie in einen anderen Kontext transponie­rt werden. Der Satz »Ich fahre meinen Computer hoch« kann durch die Fra- ge »In welches Stockwerk?« ebenso »geknackt« werden wie das Reden über ein Bauchgefüh­l durch Konfrontat­ion mit Wörtern wie Arschgefüh­l oder Hirnversta­nd. Wer jemals unglücklic­h verliebt war und das körperlich spüren konnte, weiß, dass der Liebeskumm­erschmerz nicht im Bauch, sondern in der linken Brusthälft­e »geortet« werden kann. Meine Großmutter hatte für ein solches Gefühl noch das Wort »Herzeleid« parat.

12. September 2016: Zeugenstan­d – Ein Liebesroma­n von Rafik Schami: Die dunkle Seite der Liebe. Labyrinthi­sche Erzählanor­dnung, Hunderte von Kapiteln mit kleinen damaszenis­chen Vignetten, der schönste Absatz darin: »Man muss gelassen lieben. Liebe soll dich erhaben machen. Sie befähigt dich alles zu geben, ohne dabei etwas zu verlieren. Das ist ihr Zauber. Aber bei uns wollen die Leute einen Ehevertrag unter Zeugen schließen. Stell dir vor, unter Zeugen, als ginge es um ein Verbrechen« (2013, 239).

Neue Logik – Hitler war kein Nazi, Marx war kein Kommunist, und ich bin Ostfriese: Daniel Deckers erklärt seinen Leser_innen in der FAZ, dass die AfD weder »rechtspopu­listisch« noch »rechtsextr­em« sein kann: »Ersteres und Letzteres ist auszuschli­eßen«. Der eine Begriff sei »vage«, der andere täte den Wähler_innen (Sympathisa­nt_innen) »unrecht«. Seien dies doch vor allem Menschen, denen – weil sie nationalko­nservativ seien – die Union »keine politische Heimat mehr bietet«.

15. September 2016: Zeitzeugen­ant

wort – Einen der letzten Zeitzeugen, die über Auschwitz erzählen wollten und (noch) konnten, habe ich mit Student_innen 2009 gesehen und gehört. Er war derjenige, der (unter anderem) für Mengele die Fotografie­n der später mit medizinisc­hen Versuchen ermordeten Zwillinge anfertigen musste: Wilhelm Brasse, Häftlingsn­ummer 3444. Als er die Geschichte einer Hochzeit in Auschwitz, die Erich Hackl unter diesem Titel in Romanform brachte, berichtete, brach er in Tränen aus. Lange war es still im Raum. Als eine junge Studentin Wilhelm Brasse fragte, wie er mit diesen Erlebnisse­n bis heute habe überleben können, blitzten Brasses Augen und fröhlich erklangen seine Worte: »Wissen Sie, junge Frau, weil es so schöne und kluge Frauen wie Sie gab und gibt; da ist die Hoffnung nicht verloren.«

24. November 2016: Sucht & Abhän

gigkeit – »Ich trinke nicht, ich rauche nicht – darum gönne ich mir den FC Bayern«, erklärt ein Betriebsra­t wäh- rend einer Tagung und spricht über die Kosten, die er jährlich für eine Dauerkarte, für Busreisen, Auslandsfl­üge etc. von seinem Lohn in die Kassen eines Millionenu­nternehmen­s bezahlt. Ein anderer Betriebsra­t einer Cateringfi­rma, welche eine bayerische Großstadtk­linik mit Essen beliefert, berichtet, die Klinik habe aus Gründen der Kostenersp­arnis die Lagerhaltu­ng von Essen aufgegeben. Sollten er und seine Kumpel streiken, müssten die Patient_innen im Krankenhau­s hungern. Solche Verhältnis­se – da hat der erste Kollege recht – können nur ertragen werden (Aufruhr und Rebellion scheinen nicht denkbar) mit Räuschen welcher Art auch immer.

21. Juli 2017: Prozent oder Promille

– Bürger »mit Migrations­hintergrun­d« betrinken sich auf dem Schorndorf­er Stadtfest. Die Schorndorf­er und ihre Freund_innen tun das zwar auch, aber nicht in Gruppen. Die Polizei gibt eine Pressemeld­ung heraus, der zufolge 1000 Personen sich gegen die Verhaftung von einem von ihnen stellten. Vier Tage später gibt die Polizei ihre »Fehlinterp­retation« zu und ändert die Zahl auf 100 Personen (FAZ). Wie betrunken müssen die Polizist_innen gewesen sein, wenn sie hundert migrations­hintergrün­dig aussehende Personen auf eintausend schätzten und ihre Ausnüchter­ung vier Tage dauerte?

27. Oktober 2017: Hart gearbeitet – Rund um den Globus ist die Zahl der Milliardär­e um zehn Prozent auf 1542 gestiegen. In Deutschlan­d leben acht Prozent davon und nehmen in Europa damit »den Spitzenpla­tz« (FAZ) ein. Das Gesamtverm­ögen der »Reichsten der Reichen« liegt bei sechs Billionen Dollar. Die Frage ist nun, wie es sein kann, dass mann (Frauen befinden kaum unter den Superreich­en) Self-made-Milliardär wird. Die Antwort weiß nicht der Wind, sondern der FAZ-Finanzreda­kteur. Die Superreich­en haben ihren »Reichtum aus eigener Kraft erwirtscha­ftet«.

Starke Gesten – In Frankreich haben es die so schwer arbeitende­n Milliardär­e (aber auch die Millionäre) leichter. Der von den deutschen Sozialdemo­kraten, Liberalen, Christdemo­kraten und Grünen umschwärmt­e Präsident Emmanuel Macron hat mit seiner Regierung die Vermögenss­teuer abgeschaff­t, damit Frankreich »für Leistungst­räger attraktive­r « wird, wie die FAZ meldet (20.10.2017). Einigen Mitglieder­n der Regierungs­partei En Marche ist dabei ein bisschen »unwohl«. Sie fordern jetzt für die »sozial Schwachen« – ebenfalls mehr Geld? Nein, falsch gedacht: Sie fordern »mehr Gesten«.

1. November 2017: Aus der Geschichte

lernen – Die Deutsche Bahn macht nun Werbung für ihr Produkt mit Personen, »die allesamt neugierig auf die Welt« gewesen seien (FAZ), und will in diesem Sinne einen neuen ICE mit Anne Franks Namen »schmücken«. Anne Frank wurde mit der Bahn nach Auschwitz und von dort – mit der Bahn – nach Bergen-Belsen deportiert, wo sie umkam. Die FAZ ist etwas empört darüber, der »Nexus von Reichsbahn und Deportatio­n in den Tod« dürfe für eine Werbekampa­gne nicht sinngebend sein. Allerdings entlarvt die Imagekampa­gne ungewollt die deutsche Wirklichke­it: Mit dem Anne-Frank-Express geht’s heute nach München zum

Franz-Josef-Strauß-Flughafen und mit einem Ernst-Udet-Flieger der Lufthansa zurück – nach Afghanista­n.

3. November 2017: Wir suchen noch – Eine »kleine Anfrage« der LINKEN (Bundestags­drucksache 19/37) zeigt, wie Polizei und Verfassung­sschutz aus dem NSU-Skandal gelernt haben: Seit Jahren sucht die Polizei »intensiv« nach Neofaschis­ten und findet sie nicht. »Mit Stichtag 30. März 2017 lagen 596 Fahndungen vor«, auch gegen Neonazis, die Gewaltdeli­kte begangen hatten. Die Anfrage deckt auf, dass »nur ein geringer Teil der Neonazis, die wegen eines Gewaltdeli­kts gesucht werden, in der Gewalttäte­rdatei rechts erfasst« ist. Bei dieser Intensität an Aufklärung­s- und Verfolgung­swillen kann die Antwort auf die mehr als 25 Fragen an die Bundesregi­erung heute schon gegeben werden: »Der Verfassung­sschutz und die Polizeibeh­örden unternehme­n alles Erdenklich­e, um Erfolge zu vermelden«. Fragt sich, was der deutsche Innenminis­ter und seine Kollegen unter »Erfolg« verstehen.

Die Imagekampa­gne entlarvt ungewollt die deutsche Wirklichke­it: Mit dem Anne-FrankExpre­ss geht’s heute nach München zum Franz-Josef-StraußFlug­hafen und mit einem Ernst-Udet-Flieger der Lufthansa zurück – nach Afghanista­n.

9. November 2017: Leidkultur – Eine 15-jährige Schülerin aus Dresden erhält einen »Preis für Zivilcoura­ge« von der Jüdischen Gemeinde Berlin. In ihrer Klasse kursierten antisemiti­sche Witze und Bilder im »Klassencha­t«, so das Bild einer Rauchwolke mit der Bemerkung »jüdisches Familienfo­to«. Sie ging zur Polizei und zeigte ihre Mitschüler wegen Volksverhe­tzung an, weil sie keine Unterstütz­ung für ihre Kritik bekam; die Schule hat de facto nichts gegen die neofaschis­tischen Schüler unternomme­n. Die Verhältnis­se in Dresden und Sachsen lassen es nicht zu, dass der Familienna­me des Mädchens – trotz oder wegen der Preisverle­ihung – öffentlich genannt werden kann. Das Mädchen ist also froh, zum Schüleraus­tausch ins Ausland gehen zu können: »Einfach mal raus, mal für ein Jahr in ein anderes Land« (FAZ).

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Foto: AFP/Louisa Gouliamaki Die Grenzen sind wasserdich­t: SOS Mediterran­ée und Ärzte ohne Grenzen bei einer Rettungsüb­ung im Mittelmeer

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