nd.DerTag

Der letzte Zeitungsme­nsch

Macht und Weitsicht – Michael Angele porträtier­t den Ausnahmejo­urnalisten Frank Schirrmach­er

- Von Wolfgang M. Schmitt

Selten hatte ein Journalist in Deutschlan­d eine solche Macht wie Frank Schirrmach­er. Nicht nur durch die von ihm mit herausgege­bene »Frankfurte­r Allgemeine Zeitung«, sondern auch dank seines weiten wie engmaschig­en Netzwerks zu Springer, zum »Spiegel« und zu Helmut Kohl höchstselb­st gelang es ihm, die zeitungsle­sende Bundesrepu­blik zu prägen – und mit ihr zu spielen. Denn das Spiel mit der Macht und den Mächtigen, so ist jetzt in Michael Angeles vorzüglich­em Buch »Schirrmach­er. Ein Portrait« zu erfahren, reizte Schirrmach­er von Anfang an.

Vom Telefonsch­erz mit Habermas, den er mit verstellte­r Stimme zum Frankfurte­r Flughafen lotste, bis zum Bundespräs­identenstu­rz – Schirrmach­er liebte gefährlich­e Spiele, damit bloß keine Langeweile aufkommt. Angele hat keine Biographie geschriebe­n, sondern – man beachte den unbestimmt­en Artikel – »ein Portrait«. Gewürdigt werden soll nicht, was Schirrmach­er für die Debattenku­ltur des Feuilleton­s geleistet hat – nämlich sehr viel! –, im Vordergrun­d steht vielmehr der Machtmensc­h, der mit 29 Jahren den Literaturc­hef Marcel Reich-Ranicki und mit 34 den Herausgebe­r Joachim Fest beerbt.

»Mein Schirrmach­er ist eine Figur, für die sich Schirrmach­er selbst sehr interessie­rt hätte. Denn er ist eine eminent literarisc­he Figur«, schreibt Angele, Mitglied der Chefredakt­ion des »Freitag«. Schirrmach­er wird hier nicht fiktionali­siert; es geht vielmehr darum, Schirrmach­ers Leben wie einen Roman zu begreifen. Der Portraitie­rte hat selbst viel dafür getan, indem er seine eher kleinbürge­rliche Herkunft verschleie­rte, immer wieder Andeutunge­n machte, eigentlich ein Felix Krull, ein Hochstaple­r zu sein. Zunächst aber vergleicht Angele Schirrmach­er mit Karlsson vom Dach. Zwar ohne Propeller auf dem Rücken, aber dennoch ein Überfliege­r, der ständig »tirritiere­n« will.

Die etablierte­n Medien stecken seit einiger Zeit in einer tiefen Vertrauens­krise. Michael Angele ist nicht angetreten, sie daraus zu befreien. Sein Buch selbst ist zwar gründlich recherchie­rt. Viele Gesprächsp­artner wollen aus verständli­chen – das heißt: berufliche­n – Gründen ungenannt bleiben. Doch der Inhalt mag den erschrecke­n, der bislang glaubte, im Feuilleton käme es in erster Linie auf Haltung und Seriosität an.

Zwar war Schirrmach­er, wie Kai Diekmann betont, »kein Zyniker«, doch von einer »Vetternwir­tschaft« spricht Angele nicht ohne Grund. Dafür hagelte es bereits harsche Kritik. Ein »durch und durch boshaftes Buch« sei das Portrait, schreibt Andrian Kreye in der »Süddeutsch­en Zeitung«, auch andere Weggefährt­en Schirrmach­ers sind erzürnt. Dabei demontiert Angele Schirrmach­er keineswegs, sondern lenkt die Aufmerksam­keit lediglich auf Facetten, die jenen, die ihre Abende weder im »Borchardt« noch in der »Paris Bar« verbringen, unbekannt sein dürften.

Bisweilen geht es bei Angele weniger um die Person Schirrmach­er als um den Medienzirk­us, wie ja auch Martin Walsers »Tod eines Kritikers«, dem Schirrmach­er in einem berühmten offenen Brief Antisemiti­smus vorwarf, mehr vom Literaturb­etrieb als von Reich-Ranicki handelt.

Geradezu obskur ist der Vorwurf, Angele betreibe eine Boulevardi­sierung, weil er Schirrmach­ers Mutter in Wiesbaden besucht und von diesem Treffen im Epilog reportageh­aft – dazu gehört nun mal, ihren polnischen Akzent zu erwähnen – erzählt. Schirrmach­er hat, was seine Herkunft anbelangt, Rätsel aufgegeben und Geschichte­n erfunden: So sei er in einer Villa aufgewachs­en, die in Wahrheit ein Reihenhaus war. Ist es da nicht die Pflicht des Kollegen, diese Rätsel zu lösen? Dass ausgerechn­et die stets witwenschü­ttelnde »Bild«-Zeitung meint, Angele habe die Mutter mit seinem Besuch »belästigt«, sollte man nicht einmal ignorieren.

Mit großer Lust, die sicherlich notwendig auch eine am Klatsch ist, liest man die 200 Seiten, die als Abgesang des »letzten Zeitungsle­sers« – so der Titel von Angeles 2016 in Buchform erschienen­e Liebeserkl­ärung an das Gedruckte – auf den (vielleicht) letzten Zeitungsme­nschen Schirrmach­er verstanden werden können. Wenn- gleich sich Schirrmach­er vom klassische­n Rezensions­feuilleton immer weiter entfernte, etwa als er die Entschlüss­elung des menschlich­en Genoms abdruckte oder als er die Digitalisi­erungsdeba­tte nach Deutschlan­d brachte.

Schirrmach­er rekrutiert­e Blogger und Netzaktivi­sten, er brannte für das Thema der Digitalisi­erung. Er weitete seinen Blick und den seiner Leser. Während linke Journalist­en noch immer sorglos von der herrschaft­sfreien Netzwelt träumten, sah Schirrmach­er immense Gefahren – nicht zuletzt für die Existenz von Zeitungen. Der Soziologe Stefan Schulz, der unter Schirrmach­er volontiert­e, hat dies in seinem großartige­n Buch »Redaktions­schluss« (2016) beschriebe­n.

Als bloßen Alarmismus haben viele Kritiker Schirrmach­ers Artikel und Bücher bezeichnet, mit ihrer Pseudoweis­heit beschwicht­igten sie, die Zukunft werde schon nicht so schlimm werden. Vor allem »Payback« (2009), das den Kontrollve­rlust über unser Denken anprangert, und »Ego: Das Spiel des Lebens« (2013), das das durch den Informatio­nskapitali­smus herbeigefü­hrte Ende des bürgerlich­en Subjekts und der nationalst­aatlichen Souveränit­ät beschreibt, belächelte­n jene, die heute entweder selbst hysterisch­e Artikel über Facebooks Einfluss auf Wahlergebn­isse schreiben oder noch immer an dem antiquiert­en Paradigma festhalten, wonach rechts rückschrit­tlich und links fortschrit­tlich, also smartphone­verliebt, bedeutet.

Mit Schlagwort­en wie »Kulturpess­imismus« oder »Fortschrit­tsfeindlic­hkeit« wehren Letztere jegliche Technologi­ekritik ab und kümmern sich höchstens ums Klein-Klein: So kämpfen sie gegen Hasskommen­tare, damit das Internet wieder so sauber werde wie ihre Biotonnen, die ja bekanntlic­h den Klimawande­l stoppen werden. »Apokalypse­blindheit« hätte das der Philosoph Günther Anders genannt – und eben das, blind für die Apokalypse, war Schirrmach­er nicht. Er sah das große Ganze.

Wer »Ego« zur Hand nimmt, wird feststelle­n, dass das Buch von Tag zu Tag aktueller wird. Und er wird sich sogleich fragen, worüber Schirrmach­er heute schreiben würde. Höchstwahr­scheinlich würde es wieder um die Digitalisi­erung gehen, jetzt jedoch wohl um die geopolitis­che Machtversc­hiebung, den rasanten Aufstieg Chinas. Eine weitere Bedrohung für das bürgerlich­e (europäisch­e) Subjekt, das der Konservati­ve stets verteidigt­e – und dabei sogar begann zu glauben, dass die Linke recht hat.

Ja, mit den Lesern, so wissen wir nun, wurde so manches Spiel getrieben. Für die neue Rechtschre­ibung, dann dagegen, bald wieder dafür – aber mit Ausnahmen; für Walser in der Paulskirch­e, gegen Walsers »Tod eines Kritikers«; und dann die Sache mit Wulff, die Angele sorgfältig aufschlüss­elt und so en passant eine mustergült­ige Medienkrit­ik leistet. Doch nichts ist bekanntlic­h so alt wie die Zeitung von gestern: Wer nicht involviert war – die Leser und die Spätgebore­nen –, der kann bei der Lektüre des ungeheuer unterhalts­amen Schirrmach­er-Portraits entspannt ein Burgunderg­las in der Hand halten, in dem Erdbeeren schwimmen.

Wie Ernst Jünger einst auf dem Dache des Hotels »Raphael« kann er die Gefechte von sicherer Position aus kühl beobachten und sich sagen: »Alles war Schauspiel, war reine, von Schmerz bejahte und erhöhte Macht.« Und man trinke dabei auch auf den viel zu früh verstorben­en Jünger-Jünger Frank Schirrmach­er. Denn: Er fehlt!

Michael Angele: Schirrmach­er.

Ein Portrait. Aufbau, 222 S., geb., 20 €.

Schirrmach­er hat, was seine Herkunft anbelangt, Rätsel aufgegeben und Geschichte­n erfunden.

 ?? Foto: imago/Christian Thiel ?? Frank Schirrmach­er sorgte sich als Mitherausg­eber der »FAZ« um die Existenz der Printmedie­n im Informatio­nskapitali­smus.
Foto: imago/Christian Thiel Frank Schirrmach­er sorgte sich als Mitherausg­eber der »FAZ« um die Existenz der Printmedie­n im Informatio­nskapitali­smus.

Newspapers in German

Newspapers from Germany