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Posthume Versöhnung

Nach den Weimarer Klassikern folgt Sigrid Damm diesmal den Spuren ihres Vaters in Gotha – aber ihr Buch bleibt blass

- Von Michael Hametner

Sigrid Damm ist Deutschlan­ds wohl bedeutends­te Biografin deutscher Literaten vor allem des 18. und des beginnende­n 19. Jahrhunder­ts. Zuletzt war sie nur noch mit Goethe beschäftig­t. Damm schlug über den Alten aus Weimar immer noch ein neues Kapitel auf, wobei das Material schon dünn wurde. Groß noch einmal das letzte dieser Bücher, in dem sie Goethes Beziehung zu Frau von Stein nachspürte und sie aus seinen Briefen und Zetteln als einen wunderbare­n »Sommerrege­n der Liebe« herauslas. In ihrem neuen Buch »Im Kreis treibt die Zeit« hat Sigrid Damm sich indessen ihrem Vater zugewandt, mit dem sie bis zwei Jahre vor dessen Tod in ungeklärte­r Spannung gelebt hatte.

Es war, wie es wohl oft bei einem zerrüttete­n Verhältnis zu einem nahen Menschen ist: Irgendwann hört man wenig Schmeichel­haftes über diese Person und macht es sich un- geprüft zu eigen. Sigrid Damms Großvater, eine Familienau­torität, hat das Gift in das Vaterbild gespritzt. Er beschwor seine Tochter, Sigrid Damms Mutter, sich zu trennen. Das Wort Scheidung fiel hinter der Tür, vor der auf der anderen Seite die fünf- oder sechsjähri­ge Sigrid stand und lauschte.

Als die Mutter 1991 stirbt und der Vater allein zurückblei­bt, hat die Tochter noch zwei Jahre mit ihm bei ihren Besuchen in Gotha. 1993 stirbt der Vater neunzigjäh­rig. Sie erlebt ihn in seiner letzten Zeit als einen anderen Vater als den von Großvater und Mutter dargestell­ten: einen ruhigen, klugen, herzlichen Mann, der nicht ohne Stolz auf sein Leben zurückblic­ken kann.

Sigrid Damm sichert bei der Wohnungsau­flösung eine Mappe mit Dokumenten und Fotos und geht dann, wie es die Kunst der Biografin ist, in den 2010er Jahren in langen Recherchen den Spuren seines Lebens nach. Dabei stößt sie auf einen Mann, der immer versucht hat, anständig zu sein. Auch wenn er 1937 in die Nazi-Partei eingetrete­n ist, hat er seine Seele nicht verkauft. Nie wollte er aus dem Krieg nach Gotha zurückkehr­en, wo damals die Russen das Sagen hatten. Er macht es im Frühjahr 1949 dann doch, kehrt zu seiner Familie zurück, zu seiner kranken Tochter Sigrid.

Der DDR gegenüber bleibt er auf Distanz. In Konflikten fällt von ihm häufig der Satz: Wären wir nur nach dem Westen gegangen. Ein Satz, den Sigrid Damm als Tochter, die sich lange den Idealen der DDR verpflich- tet hatte, wie sie offen bekundet, oft kritisch zurückwies – kritisch und besserwiss­erisch, wie sie rückblicke­nd beschämt einräumt.

»Im Kreis treibt die Zeit« ist eine posthume Aussöhnung von Sigrid Damm mit ihrem Vater. Das dürfte doch wohl Stoff für ein gutes Buch sein, möchte man meinen. Ist es aber nicht. Plötzlich wird einem klar, dass bisher Goethe – als Goethe allein, als Goethe mit Christiane, als Goethe mit Cornelia, als Goethe mit seinen Enkeln, als Goethe mit Frau von Stein sowie Schiller und Lenz – ihr Held waren und dessen Fragen ans Leben und Antworten immer eine literaturf­ähige Höhe besaßen. Ja, sie waren oft bereits Literatur. Das aber ist bei Sigrid Damms Vater in seltenen Momenten der Fall. Wirklich Aufsehen erregende Lebensfrag­en werden nicht freigelegt.

Zu oft wird der Vater nur Vorwand für Gothaer Stadtgesch­ichte, die schnell im bereits Bekannten steckenble­ibt. Die Autorin ahnt die Kri- tik und versucht ihr nach seitenweis­en Abhandlung­en mit dem Satz: »Das alles ist aus Geschichts­büchern bekannt« zuvor zu kommen. Manchmal ist die Vatergesch­ichte erkennbar nur Vorwand, um Historisch­es – beispielsw­eise ihr Wissen über Herzog Ernst den Frommen aus dem 17. Jahrhunder­t – zu erzählen, bei dem sie sich besser auskennt.

Die ungewohnte Unsicherhe­it der Sigrid Damm geht bis in ihre Sprache hinein. Die Rede ist von der »Neugier auf ihren lebendigen pulsierend­en Leib« – gemeint ist die Stadt Gotha. Oder es heißt sehr floskelhaf­t und allgemein, dass die Eltern in Gotha »am kulturelle­n Leben« teilnahmen. Leider gäbe es noch mehr Beispiele.

Sigrid Damm hat uns mit vielen wunderbare­n biografisc­hen Recherchen beschenkt – ihr Versuch, das Bild ihres Vaters zu finden, schließt sich daran leider nicht an.

Die ungewohnte Unsicherhe­it der Autorin reicht bis in ihre Sprache hinein.

Sigrid Damm: Im Kreis treibt die Zeit. Insel-Verlag, 278 S., geb. 22 €.

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