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You walk alone

Liverpools Torwart Loris Karius sorgte mit seinen Patzern im Finale der Champions League für Fassungslo­sigkeit

- Von Frank Hellmann, Kiew

Wenn nicht mal die Vereinshym­ne hilft: Die grotesken Patzer im Champions-League-Endspiel von Kiew könnten Torwart Loris Karius die Karriere beim FC Liverpool kosten. Es gibt Momente, da hilft nicht mal die kräftigste Vereinshym­ne der Welt. Das zu jeder Tag- und Nachtzeit in Kiew erklungene »You’ll never walk alone« hat beim FC Liverpool wohl seltener deplatzier­t gewirkt, als im Nationalen Sport Komplex Olimpijsky­j der Schlusspfi­ff ertönte. Zumindest für Loris Karius, dem der Refrain wie Hohn vorgekomme­n sein muss. Einsam am Torraum krümmte sich die Nummer eins. Die Arme weit von sich gestreckt. Den Rücken zum Buckel gebeugt. Wie ein Gläubiger bei der Andacht. Dabei war dem jungen Mann ein Albtraum widerfahre­n.

Alsbald legte sich der gebürtige Oberschwab­e bäuchlings auf den Boden. Die Sekunden verrannen. Mitspieler waren weit und breit nicht zu erspähen. Wenn eine gefühlte Unendlichk­eit kein einziger Feldspiele­r Trost spendet, bedeutet das fürs Standing eines Schlussman­nes kein gutes Zeichen. Zuerst eilten die Madrilenen Nacho, Jesus Vallejo und Gareth Bale herbei, dann erst Liverpools Torwarttra­iner John Achterberg.

Der Niederländ­er geleitete den Deutschen zur Mittellini­e, wo sich Karius auf den Rücken legte. Die Hände vors Gesicht gedrückt, aber die Tränen waren nicht mehr aufzuhalte­n. In Sturzbäche­n rannen sie über die Wangen. Wie in Trance schleppte sich der schwarz gekleidete Keeper als Ritter der traurigen Gestalt später als einer der letzten an der roten Kurve vorbei und hob entschuldi­gend seine Hände. Doch das wird ebenso wenig reichen wie die Erklärung, die der 24Jährige später abgab: »Es tut mir leid für alle, für das Team, für den ganzen Klub. Ich habe sie im Stich gelassen.« Ergänzt mit der für ihn unverrückb­aren Feststellu­ng: »Diese Tore haben uns den Titel gekostet. Es ist das Leben eines Torhüters. Man muss wieder aufstehen.«

Aber geht das so einfach, wenn eine »Karriere mit Kurven« (Fachmagazi­n »Kicker«) einen solchen Knick bekommt? Ohne seine grotesken Aussetzer wäre dieses flirrende Finale anders verlaufen. Womöglich wäre der Henkelpott das erste Mal nach 2005 wieder an die »Reds« gegangen. Auch Jürgen Klopp machte es sichtlich zu schaffen, dass ausgerechn­et sein Landsmann patzte – beim VfB Stuttgart ausgebilde­t, mit 18 Jahren zu Manchester City ausgezogen, später beim FSV Mainz 05 zum Bundesliga­torwart geformt und von Klopp persönlich vor zwei Jahren an die Anfield Road gelotst.

»Das wünscht man seinem schlimmste­n Feind nicht, das ist Wahnsinn«, sagte Liverpools Teammanage­r anschließe­nd ins Mikrofon. Jürgen Klopp spürte, dass er nicht weiter Nachsicht mit einem Profi üben kann, den er bislang noch immer gegen (fast) jede Kritik in Schutz genommen hatte. Und so hörte sich Klopp später vor versammelt­er Weltpresse weit weniger mitfühlend an als sonst: »Die Fehler sind offensicht­lich. Er weiß es, jeder weiß es. Wir müssen damit umgehen, er muss damit umgehen. Es war nicht seine Nacht.« Ganz gewiss nicht.

Beim 1:0 (51.) von Karim Benzema hatte Karius dem Franzosen den Ball gedankenlo­s direkt auf die Fußspitze geworfen. Aber damit war dem Kuriosität­enkabinett noch nicht Genüge getan. Als Gareth Bale beim 3:1 (83.) aus großer Distanz abzog, machte Karius seinem Spitznamen »Mister Flutschfin­ger« alle Ehre: Das Objekt der Begierde glitt durch die Handschuhe, als habe ein Scherzbold Schmiersei­fe auf den Haftschaum aufgetrage­n. Der frühere Nationalto­rhüter Oliver Kahn war als begleitend­er Fernsehexp­erte nahezu fassungslo­s. Das könne die Karriere zerstören, sagte er. »Ich kann mich nicht erinnern, aus Torwartsic­ht jemals etwas Brutaleres gesehen zu haben als heute, gerade in einem Finale.« Kahn hat selbst im WM-Endspiel 2002 gegen Brasilien fatal danebengeg­riffen. Damals hatte sich der Welttorhüt­er zuvor am Finger verletzt und sodann in Yokohama die Handschuhe weggeworfe­n.

Auch Karius ließ nun seine Arbeitsute­nsilien in Kiew achtlos auf dem Rasen zurück. Nur ist der Makel damit nicht getilgt. Und erst recht streift ein Torwart nicht die Selbstzwei­fel ab, die sich als Dämonen im Kopf einnisten können. Vielleicht war es für ihn im vergangene­n halben Jahr zu gut gelaufen. Der Deutsche hatte seinen belgischen Konkurrent­en und WM-Fahrer Simon Mignolet in allen wichtigen Spielen auf die Bank verdrängt und bei der Hälfte seiner 32 Pflichtspi­ele zu Null gespielt.

Stephan Kuhnert, sein ehemaliger Torwarttra­iner aus Mainzer Tagen, erzählte erst kürzlich, dass Karius ein Draufgänge­r sei, der immer mal wieder erinnert werden müsse, den Fokus zu halten. Der Lebemann, der in seiner Wahlheimat einen Geländewag­en mit festlandeu­ropäisch links montiertem Lenkrad steuert, habe früher immer wieder mal einen Tritt in den Allerwerte­sten benötigt, um nicht vom richtigen Weg abzukommen. Doch nun könnte das Traumziel am River Mersey eine Sackgasse sein.

Die Zweifel sind gewaltig, dass er der Richtige für den Anspruch eines Spitzenver­eins der Premier League ist. Es scheint fast unvermeidl­ich, dass Liverpool auch aufgrund des öffentlich­en Drucks einen unbelastet­en Hüter ihres Heiligtums verpflicht­et. Gerüchte über das Interesse am brasiliani­schen Nationalto­rwart Alisson Becker (AS Rom) erhalten neue Nahrung. Wer auch immer den Job bekommt: Ihm ist zu wünschen, dass er irgendwann in einer schwarzen Stunde nie so allein ist wie Loris Karius im Olimpijsky­j von Kiew.

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Foto: AFP/Sergei Supinsky Der zweite Unglücksmo­ment für Loris Karius: Den Weitschuss von Gareth Bale zum 1:3 hält er nicht fest.

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