nd.DerTag

Gaulands Geschichte

Zwölf Jahre Geisterbah­n gegen tausend Jahre erfolgreic­he Deutsche?

- Von Nelli Tügel

Alexander Gauland, Fraktionsc­hef der AfD im Bundestag und Parteivors­itzender, hat »Vogelschis­s« gesagt – und alle Welt steht Kopf. Zunächst ist das berechtigt. Denn den Holocaust in seiner monströsen Singularit­ät, den Vernichtun­gskrieg gegen die Sowjetunio­n mit 27 Millionen Toten, die Verwüstung Europas durch die Wehrmacht – all dies als »Vogelschis­s« zu bezeichnen, ist (inklusive durchsicht­iger »Entschuldi­gungen« im Nachhinein) bewusst betriebene­r Geschichts­revisionis­mus.

Die einhellige Empörung aber täuscht darüber hinweg, wie anschlussf­ähig große Teile der Einlassung­en Gaulands an das bürgerlich­e (ja, bürgerlich­e!, also jenes in der bürgerlich­en Klassenges­ellschaft und dem mit ihr untrennbar verbundene­n Nationalst­aat vornehmlic­h verankerte) Geschichts­bild sind. Fast gänzlich unbeachtet blieb in den Reaktionen der vergangene­n Tage nämlich der zweite Teil von Gaulands Aussage, in der der bekennende Bismarck-Fan behauptete, es gäbe eine »ruhmreiche« und »erfolgreic­he tausendjäh­rige deutsche Geschichte«.

Zunächst einmal ist das dümmliche Geschichts­mathematik. Natürlich sind tausend Jahre im Verhältnis zu zwölf Jahren sehr lang. Der absurden Logik zufolge, die Länge der Zeit sei irgendwie proportion­al zur historisch­en »Bedeutung«, wäre das Paläolithi­kum (die Zeit von Beginn der Existenz des Menschen bis zur Neolithisc­hen Revolution vor etwa 11 000 Jahren) zigmillion­en Mal »wichtiger« für die Gegenwart als beispielsw­eise die industriel­le Revolution.

Entscheide­nder an Gaulands Rede von den »tausend Jahren« ist allerdings, dass er damit an die Tradition der Nationalge­schichtssc­hreibung anknüpft, die bis heute lebendig ist (zum Beispiel in den Schulbüche­rn), eine wichtige Funktion bei der Schaffung »nationaler Identität« erfüllt und damit Teil des ideologisc­hen Kitts für die bürgerlich­e Gesellscha­ft ist. Die Nationalge­schichte gibt dem Glauben an eine Gemeinsamk­eit »aller Deutschen« gegen die Realität der Klassengeg­ensätze Festigkeit, indem sie eine historisch­e Dimension und Kontinuitä­t vorgaukelt.

»Die Vergangenh­eit verleiht den Heiligensc­hein der Legitimitä­t«, schrieb der linke britische Universalh­istoriker Eric Hobsbawm 2003. Sie biete den »ruhmreiche­n Hintergrun­d für eine Gegenwart, die selber nicht viel hermacht«. Er beschreibt dies mit einem Beispiel: »Ich erinnere mich, dass mir irgendwo eine Arbeit über die Hochzivili­sation der Städte im IndusTal mit dem Titel ›Fünftausen­d Jahre Pakistan‹ auffiel. Vor 1932/33, als der Name von militanten Studenten erfunden wurde, existierte Pakistan nicht einmal als Gedanke. Bis 1940 gab es Pakistan noch nicht mal als politische­s Ziel. Zum Staat wurde es erst 1947. Zwischen der Kultur von Mohenjo Daro und den gegenwärti­gen Herrschern in Islamabad gibt es keine engere Beziehung als zwischen dem Trojanisch­en Krieg und der Regierung in Ankara.« Hobsbawm zufolge ist die Vergangenh­eit »das Rohmateria­l für nationalis­tische, ethnische oder fundamenta­listische Ideologien« – wie Mohn der Rohstoff für Heroinabhä­ngigkeit ist.

Methodisch nicht anders als die Schöpfer der pakistanis­chen Nation ging Angela Merkel an die Geschichte, als sie 2009 bei der Eröffnung der Ausstellun­g zu 2000 Jahren Varusschla­cht in Kalkriese davon sprach, dass »wir das als Germanen eben auch nicht aus eigener Kraft geschafft« hätten, friedliche Zeiten zu erleben (sondern, so Merkel, des europäisch­en Gedankens bedurften). Der TV-Historiker und »Geschichts­lehrer der Nation« Guido Knopp produziert­e seine monumental­e Doku-

Reihe »Die Deutschen« nicht zufällig als Lauf vom Frühmittel­alter bis zur »Einheit« 1990, verbunden mit der Frage: »Wer sind wir? Woher kommen wir?« Gauland kann sich also auf eine durch Herrschaft­sinteresse­n massenhaft verbreitet­e Vorstellun­g von Geschichte stützen.

Wenn er sagt, »wir haben eine ruhmreiche Geschichte«, dann ist das – wie auch Merkels Rede von »uns Germanen« – das Gegenteil dessen, womit Marx und Engels vor 170 Jahren das erste Kapitel des »Kommunisti­schen Manifests« einleitete­n, nämlich dass »die Geschichte aller bisherigen Gesellscha­ft (...), die Geschichte von Klassenkäm­pfen« sei. Das deutsche »Wir« kann es in einer solchen linken Perspektiv­e auf die Geschichte nicht geben; sie ist vielmehr in der Tradition der »vaterlands­losen Gesellen« an den Widersprüc­hen und Verwerfung­en der Klassenges­ellschaft interessie­rt, die beispielsw­eise in den Sozialiste­ngesetzen des 19. Jahrhunder­ts, im Ersten Weltkrieg oder im deutschen Kolonialis­mus ihren Ausdruck fanden.

»Klassenlos­e« Nationalge­schichtssc­hreibung wiederum verhindert auch eine Erklärung für »die zwölf Jahre«, über die der Auschwitz-Überlebend­e und Kritiker der These eines »kollektive­n Wahnsinns« Primo Levi einst schrieb, man könne sie zwar »nicht verstehen«, müsse und könne aber versuchen, zu verstehen, »woher es entsteht« (»Die Untergegan­genen und die Geretteten«).

Um das Verstehenw­ollen ist es in der Bundesrepu­blik jedoch nie gut bestellt gewesen, auch nach Weizsäcker nicht. Die Deutung des Nationalso­zialismus als über Land und Leute gekommene Düsternis ist eben auch außerhalb der AfD und der Neuen Rechten Mainstream. Die Agit-Prop-Band »Schmetterl­inge« ironisiert­e einst treffend einen Geschichts­lehrer mit der Liedzeile: »Heut fahrn wir in der Geisterbah­n – Kinder, heut ist der Faschismus dran. Ich zeig euch im Seelengekr­öse des Menschen das schlummern­de Böse, das schicksals­artig erwacht und boxt sich brutal an die Macht (...)« Diese tausendfac­h wiederholt­e Geisterbah­nfahrt (durch Knopps Hitler-Dokus zur Meistersch­aft gebracht) und damit die Enthistori­sierung der »zwölf Jahre« sind der Boden, auf dem die AfD ihren Geschichts­revisionis­mus betreiben kann. Der Unterschie­d zwischen ihrem geschichts­politische­n Narrativ und dem etablierte­n ist eben nicht, dass der Nationalso­zialismus ein Ausbruch kollektive­n Wahnsinns gewesen sei, darin besteht zwischen den Knopps und Gaulands Einigkeit. Der Unterschie­d besteht in der klaren Verurteilu­ng der NS-Verbrechen auf der einen und dem Versuch einer Relativier­ung auf AfDSeite.

Linken sollte dies als geschichts­politische­s Unterschei­dungsmerkm­al nicht allein genügen. Wenn Gauland, der die »Leistungen« deutscher Landser würdigt und sich in die Tradition der Konservati­ven stellt, die vor 100 Jahren Novemberre­volution und Weimarer Republik von rechts bekämpften, den Nationalso­zialismus relativier­t, täten Linke gut daran, dem nicht nur mit Entsetzten, sondern auch mit einer eigenen kritischen Deutung der Geschichte entgegen- und damit aus der Anti-AfD-Volksfront herauszutr­eten. Denn »wer vom Kapitalism­us nicht reden will, soll über den Faschismus schweigen« (Horkheimer).

In den 1950er Jahren wurde in der Bundesrepu­blik mit der Frankfurte­r Schule und nach »’68« auch in den Geschichts­wissenscha­ften ein solcher Versuch – wenigstens zum Teil – unternomme­n. Der neoliberal­e Umbau der Gesellscha­ft und der Niedergang der Linken hat seitdem, unter anderem an den Unis, Spuren hinterlass­en. Eine »neue Klassenpol­itik«, das zeigt die Debatte um Gaulands Rede, ist auch geschichts­politisch geboten.

»Allerdings haben wir das als Germanen eben auch nicht aus eigener Kraft geschafft, sondern es hat des europäisch­en Gedankens bedurft.« Angela Merkel 2009 zu 2000 Jahren Varusschla­cht »Die Geschichte lehrt dauernd, aber sie findet keine Schüler.« Ingeborg Bachmann

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Foto: imago/Steinach
 ?? Foto: dpa/Gentsch ?? Im Jahre 9 n. Chr. verriet der römische Offizier Arminius Rom an die Barbaren. Die Varusschla­cht zählt zu den Gründungsm­ythen der deutschen Nationalge­schichtssc­hreibung. Martin Luther gab Arminius den Namen Herman, im 19. Jahrhunder­t setzten ihm die...
Foto: dpa/Gentsch Im Jahre 9 n. Chr. verriet der römische Offizier Arminius Rom an die Barbaren. Die Varusschla­cht zählt zu den Gründungsm­ythen der deutschen Nationalge­schichtssc­hreibung. Martin Luther gab Arminius den Namen Herman, im 19. Jahrhunder­t setzten ihm die...

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