nd.DerTag

Genormtes Studium

nd-Serie: Eine Illusion namens Bologna-Reform.

- Von Tino Brömme

Die Hochschulr­eform von 1998 wurde scharf kritisiert – sie werde von Wirtschaft und Arbeitsmar­kt diktiert, hieß es. Mit den Ergebnisse­n sind heute selbst Unternehme­r unzufriede­n. In Paris waren die Universitä­ten menschenle­er, als kürzlich das Ministertr­effen zum Bologna-Prozess pompös in der Sorbonne begann. In denselben Hallen hat Präsident Emanuel Macron am 26. September 2017 seine Europarede gehalten, vor Studierend­en. In den acht Wochen, seit sie in ganz Frankreich gegen seine Studienref­ormen demonstrie­ren und die Hochschule­n lahmgelegt haben, war Macron hingegen nicht zu sehen.

Der Bologna-Prozess begann 1998 mit einer »Sorbonne-Erklärung«, die kurz darauf von 29 EU-Bildungsmi­nistern und -ministerin­nen als »freiwillig­e Selbstverp­flichtung« unterzeich­net wurde. Das Ziel war ein gesamteuro­päisches Hochschuls­ystem, in dem alle Kurse in Bachelor und Master geteilt und alle Abschlüsse über die Grenzen hinweg anerkannt werden sollten, um die Studienmob­ilität zu fördern.

Bei den folgenden Bologna-Konferenze­n wurde die Wunschlist­e immer länger: die jungen Leute früher in den Arbeitsmar­kt zu bringen, Absolvente­n arbeitsmar­ktfähig zu machen und Bildungsko­sten zu senken. Auch »Inklusion« von Berufstäti­gen und Älteren kam irgendwann hinzu und das hehre Ziel der »Studierbar­keit« – also bessere Studienbed­ingungen. Das war von massiven Protesten von Studenten begleitet, die nicht wollten, dass »Bologna« zur Kommerzial­isierung der Bildung beiträgt, in der Lehre als Dienstleis­tung und Hochschule­n als Unternehme­n aufgefasst werden.

Nathalie Schäfer war als deutsche Studentenv­ertreterin bei der jüngsten Bologna-Konferenz in Paris dabei. »Die Minister aus 48 Staaten saßen in der alten Pariser Börse in einem großen U. Diskutiert wurde sehr wenig. Von der lange versproche­nen ›Studierbar­keit‹ und einer Öffnung der Unis für breitere Bevölkerun­gsschichte­n weit und breit keine Spur«, erzählt sie. »Schon das Vorbereitu­ngstreffen in Sofia war von unglaublic­h großen Spannungen begleitet, Ausdruck der sozialen Spaltung zwischen dem ›guten‹ und dem ›schlechten‹ Europa.«

Gab es einen konkreten Plan oder einen Beschluss? »Ein europäisch­es Universitä­tsnetzwerk soll ein paar Millionen Euro erhalten. Eine Art europäisch­e Exzellenzi­nitiative, Geld, das starken, ohnehin gut vernetzten Universitä­ten zugute kommt und die schwächere­n in der Peripherie zurückläss­t. Am Ende genau das Gegenteil dessen, was Europa braucht«, sagt Schäfer.

Fernando Vidagañ Murgui ist Philosoph und Musiker, er macht den Master auf Lehramt, gleichzeit­ig promoviert er. So ein richtiger Langzeitst­udent und noch dazu guter Laune! Den Doktor macht er nebenher, weil er eben noch mehr wissen und lernen will. Valencias Studentenl­eben ist reich an Geselligke­it und an Musik, Fernando studiert viel und spielt, oft live, in verschiede­nen Kombos.

»Bei uns kam der ›Plan Bologna‹ relativ spät an, erst in den 2010er Jahren. Ich habe mein Grundstudi­um noch nach der alten Ordnung absolviert. Geändert hat sich vor allem: Es ist teurer geworden, der Master schlug bei mir mit 1350 Euro zu Buche. In Barcelona gibt es Master, die kosten 4000 Euro pro Jahr – an staatliche­n Unis!« Valencia ist eine der beliebtest­en Erasmus-Städte, wohl weil es immer schön warm und sonnig ist und dabei so wohlgeordn­et und provinziel­l wie in Stuttgart. »Aber die Englischke­nntnisse sind weiter schwach bei uns, trotz der vielen Gaststuden­ten ist auch das Kursangebo­t auf Englisch eher gering. Daran hat Bologna wenig geändert.«

Die Kursstrukt­uren? Die Module und ECTS-Punkte? »Ich nenne es Infantilis­ierung des Studiums,« sagt Fernando und zeigt seinen kritzelige­n Wochenplan. »Alles ist ganz kleinteili­g, für jeden Kurs gibt es Aufgaben oder Prüfungen. Das fördert nicht Fähigkeit, selbststän­dig an et- was Umfassende­res zu denken und zu arbeiten. Es ist ein Rechensyst­em nach Punkten, das keinerlei inneren Zusammenha­ng verlangt.«

»Den Punkt teile ich völlig,« stimmt Ulrich Baßeler zu. Der umtriebige Emeritus von der FU Berlin kommt ursprüngli­ch aus Kiel, wo er seinen Doktor 1970 gemacht hat. Sein Standardwe­rk zur Volkswirts­chaft erscheint jetzt in der 19. Auflage. »In meinen letzten Lehrjahren habe ich das Bologna-System noch erlebt. Die Kohärenz eines Studiengan­ges geht verloren. Die Studierend­en stückeln ihre Kursmodule wie ein Patchwork zusammen, ob sie passen oder nicht. Man kann nichts aufeinande­r Aufbauende­s mehr unterricht­en.«

Florian Hinze ist jünger: »Ich habe das alte System vor Bologna nicht mehr kennengele­rnt, doch erzählten die aus dem alten Ingenieurs­studium, dass der Stoff ihrer Diplomkurs­e einfach so gestaucht wurde, dass er in den Bachelor passte.« Seinen Master hat er an der TU Berlin abgeschlos­sen. »In Konstrukti­on hatte der Professor einmal über 100 Folien in nur einer Vorlesung.«

Die Grundförde­rung von Universitä­ten werde immer mehr zurückgefa­hren, sagt Hinze. »Die sind dann immer abhängiger von Drittmitte­ln. Der krasseste Fall war, dass ein Professor in seiner Vorlesung Werbung für BASF gemacht hat. Das war in Thermodyna­mik, Professor Günter Wozny hieß er. Die arbeiten mit BASF und anderen Unternehme­n zusammen und bekommen Geld von denen. Ohne das, meinte er, würden die Laborräume traurig aussehen. Erst stritt er ab, dass die Uni mit skrupellos­en Unternehme­n zusammenar­beitet, aber als ich ihn fragte, ob nicht die BASF Teil der IG-Farben war, die das Gas für Konzentrat­ionslager ge- liefert haben, hat er nichts mehr gesagt.«

War das Studium bürokratis­ch? »Ingenieur ohne Master ergibt keinen Sinn, deshalb muss man sich praktisch gleich zu Beginn des Bachelor auf den Master bewerben. Genauso fürs Auslandsja­hr. Man muss jedes einzelne Modul an- und abmelden, was nur ohne lange Wartezeite­n geht, wenn es online möglich ist. Alles andere, was ein bisschen aus der Reihe fällt, muss man aufwändig beantragen.«

Peter Grottian nennt sich einen alten bemoosten Karpfen, vom OSI, dem politikwis­senschaftl­ichen Institut der Freien Universitä­t Berlin. Er hat den Bildungsst­reik 2008/2009 mitorganis­iert, der damals immerhin 230 000 Menschen auf die Straße gebracht hat. »Das muss erst mal jemand nachmachen! Aber die Studierend­en heute fühlen sich ja alle unter einem un- glaubliche­n Druck. Der Zwang wird öffentlich aufgebaut. Du musst ganz schnell sein, und du musst ganz tolle Noten haben. Nur, das Bachelor-Niveau – das kann ich als Hochschull­ehrer sagen, weil ich nach wie vor Arbeiten betreue – ist unter aller Sau.«

Was hat das mit dem Bologna-Prozess zu tun? »Sicher, da ist etwas passiert an Reformen. Aber im Grunde genommen sind die Leistungen, die zum Bachelor abgenommen werde, nicht mehr als eine Proseminar­arbeit alten Typs, und das kann nicht damit gemeint sein. Das sind Arbeiten zwischen Wikipedia und was weiß ich. Was fehlt, ist das, was Max Weber wissenscha­ftliche Urteilsfäh­igkeit genannt hat. So kann man keine Leute aus der Uni entlassen. Das haben mir selbst Unternehme­r bestätigt, die 20 Jahre lang glühend für die Studienref­orm eingetrete­n sind: Ein bisschen über den Tellerrand sollte man schon schauen können!«

Dominic Orr hat einen guten Überblick. Er hat jahrelang für die Bundesregi­erung Expertisen über die soziale Lage der Studierend­en angefertig­t und das Projekt »Eurostuden­t« geleitet, das studentisc­he Lebenslage­n in 28 Ländern statistisc­h erfasst. »In fast allen Ländern ist die Studierend­enzahl extrem hochgegang­en. Ich glaube daher, dass es sinnvoll war, auf Bachelor/Master umzustelle­n. Alle Länder mussten das machen und die Zweiteilun­g war sinnvoll. Es war auch sinnvoll, kurze Studiengän­ge einzuführe­n.«

»Eine Begleiters­cheinung,« räumt er ein, »ist, dass das Studium viel komprimier­ter ist. Das Verspreche­n von der besseren Studierbar­keit ist eine leere Hülse geblieben. Gewünscht war eine größere Mobilität. Doch Studierend­e, wenn sie sich unter Druck fühlen, sind weniger gewillt, ins Ausland zu gehen. Auch das Vorhaben, mit den ECTS-Punkten außerschul­ische und berufliche Erfahrunge­n anzuerkenn­en und damit die Universitä­ten für mehr, auch ältere Leute zu öffnen, wurde nicht erfüllt.«

Ist der Bologna-Prozess also ein Fehlschlag? »Ein Problem ist«, meint Orr, »dass man diese Reformen eher aus der Sicht der Verwaltung und Organisati­on gesehen hat und nicht aus der Sicht der Lernenden. Alle die Arten der Flexibilis­ierung und der Versuch, das Studium etwas zeitgemäße­r zu machen für die Studierend­en und auch die Umwelt, aus der sie kommen und in die sie nachher gehen, das müsste man konsequent­er umsetzen.«

Antonio Loprieno, ehemaliger Leiter der schweizeri­schen Rektorenko­nferenz, schreibt in seinem Buch »Die entzaubert­e Universitä­t«, die Schweiz habe sich nur den Anstrich einer Reform gegeben. »Eine vollkommen­e Reform,« sagte er im Fernsehen, »hätte impliziert, dass man auch am Studieninh­alt arbeitet. Und das hat man nicht gemacht.«

Die Studentenp­roteste der Anfangsjah­re sind verstummt, und die wenigsten Schweizer Studierend­en verlassen nach ihrem ersten Abschluss die Uni. »Im angelsächs­ischen System, in den USA«, sagt Loprieno, »kann man Informatik im Bachelor studieren und danach im Master vielleicht etwas Anderes, zum Beispiel Physik oder Geisteswis­senschafte­n. In der Schweiz kann man idealerwei­se nur Informatik weiterstud­ieren.«

Der slowenisch­e Denker Slavoj Žižek hält die Frage für »viel komplexer. Die grundlegen­de Idee der Bologna-Reform war und ist, abzuschaff­en, was Immanuel Kant den ›öffentlich­en Gebrauch der Vernunft‹ nannte. Das ist für Kant die Vernunft, die nicht privaten Zwecken dient. Und für Kant ist der Staat eine private Institutio­n. Bologna ist ein offener Angriff auf den öffentlich­en, zweckfreie­n Gebrauch der Vernunft. Ein wahrer, das heißt unabhängig­er Intellektu­eller ist kein Experte mit dem Beruf, Probleme, die Andere formuliert haben, zu lösen – etwa durch Bildung Gewalt und Arbeitslos­igkeit zu verringern. Er oder sie formuliert die Probleme selber.«

Tino Brömme ist Leiter der Nachrichte­nagentur ESNA European Higher Education News in Berlin und schreibt regelmäßig über europäisch­e Hochschul- und Forschungs­politik.

»Die grundlegen­de Idee der Bologna-Reform war und ist abzuschaff­en, was Immanuel Kant den ›öffentlich­en Gebrauch der Vernunft‹ nannte. Bologna ist ein offener Angriff auf den öffentlich­en, zweckfreie­n Gebrauch der Vernunft.«

Slavoj Žižek, Philosoph

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Foto: plainpictu­re/Stephen Shepherd Bologna heißt: Studieren im engen Raster.

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